Alfred Hitchcock sagte einst: »Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.« Das historische Epos »Doktor Schiwago« von Boris Pasternak spiegelt facettenreich die Wahrheit dieser Aussage wieder. Das teilweise autobiographische Werk begann aus politischen Gründen seinen Siegeszug nicht in der russischen Heimat des Autors, sondern wurde erstmals 1957 in italienischer Sprache in Mailand verlegt, von wo es binnen kürzester Zeit internationale Erfolge feierte. Kein Jahr später war der Roman in dem osteuropäischen Geburtsland Pasternaks als Schwarzmarktware heiß begehrt. Dennoch musste er den Nobelpreis auf Druck der Regierung ablehnen. Die ambivalente Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges und der Oktoberrevolution in Russland stießen bei dem Regime auf fundamentale Missbilligung, sodass über zwei Jahrzehnte vergingen, ehe der Sohn des Schriftstellers die Ehrung entgegennehmen konnte. Doch damit wurde Boris Pasternaks Vision, dass seine Worte die Zeiten überdauern würden, Wirklichkeit.
Bereits 1965 verwandelte der Regisseur David Lean den Stoff in ein filmisches Meisterwerk mit Omar Sharif in der Hauptrolle. Komponistin Lucy Simon stellte sich Anfang der 2000er Jahre der Herausforderung, die Geschichte um »Doktor Schiwago« als Musical auf die Bühne zu bringen. Hierbei bekam sie Unterstützung von Michael Korie und Amy Powers, die für die Liedtexte verantwortlich zeichnen. Buchautor Michael Weller kürzte die Romanvorlage auf musikalisch umsetzbare Elemente herunter, sodass die Ver- und Aufarbeitung des historischen Kontextes in Einklang mit den Liebesbeziehungen einherging. Die Uraufführung von »Doktor Zhivago – A New Musical« fand 2006 im La Jolla Play House in Kalifornien statt. Nach etlichen Touren wurde das Musiktheaterstück 2015 am Broadway inszeniert. Der Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück. Anders erging es 2018 der deutschsprachigen Erstaufführung an der Musikalischen Komödie Leipzig (vgl. blimu 02/18). Die Begeisterung des Publikums zollte der feinfühligen Handhabung des historischen Stoffs durch Cusch Jung Rechnung. Nicht verwunderlich, dass in der aktuellen Spielzeit die Wiederaufnahme auf dem Programm steht. Die umjubelte Premiere zeigt, dass die Geschichte um den Moskauer Arzt, der nicht nur zwischen der Liebe zu zwei Frauen gefangen scheint, sondern gezwungen ist, die eigenen Werte und Ansichten zu überdenken, heute ebenso zu begeistern weiß und an Aktualität nichts eingebüßt hat im Vergleich zum zugrundeliegenden Roman Jahrzehnte zuvor.
Der kindliche Jurij Schiwago (Yannis Melde) steht am Grab seines verstorbenen Vaters. Einst ein wohlhabender und hochgeschätzter Mann der Gesellschaft, lässt er seinen Erben in Armut zurück. Dank der Unterstützung von Rechtsanwalt Viktor Komarovskij (Patrick Imhof) wächst der junge Russe behütet bei den Gromekos auf. Deren Tochter Tonia (Anouk Böhm) wird später seine Ehefrau. Ebenso ist es ihm möglich, seiner Liebe zur Poesie nachzugehen und ein angesehener Arzt zu werden. Eine vergleichsweise weniger sorgenfreie Kindheit erlebt Lara Guichard (Naomi Eck), die vom Liebhaber ihrer verwitweten Mutter, Viktor Komarovskij, bereits als Jugendliche vergewaltigt wird.
Als sich der überzeugte Kommunist Pascha Antipov (Björn Christian Kuhn) in ihr Herz schleicht, will Lara (Olivia Delauré) sich aus den Fängen des Anwalts befreien und versucht, ihn auf der Hochzeitsfeier von Jurij (Yngve Gasoy-Romdal) und Tonia (Nora Lentner) zu erschießen. Der Anschlag missglückt, wobei Doktor Schiwago auf sie aufmerksam wird. Fortan werden die Gedanken an sie ihn auf seinem weiteren Weg begleiten. Während Lara und ihr Revolutionär Antipov dessen Einzug in den Ersten Weltkrieg feiern, geben die beiden ihre Ehe bekannt, und in ihrer Hochzeitsnacht erzählt sie ihrem Angetrauten von dem Missbrauch durch Viktor Komarovskij. Nachdem Pascha im militärischen Konflikt als vermisst gilt, macht sie sich auf den Weg, ihn zu finden. Sie wird Hilfskrankenschwester und trifft in einem Lazarett auf Jurij, der ebenfalls einberufen wurde. Obwohl sich beide ineinander verlieben, gehen sie nach dem Krieg wieder getrennte Wege. Während Lara in ihre alte Heimat zurückkehrt, wird Schiwago zu Hause mit den Auswirkungen der Oktoberrevolution konfrontiert: Knapp entgeht er mit Hilfe von Komarovskij seiner Exekution aufgrund seiner Dichtungen, die trotz ihrer unpolitischen Inhalte den neuen Machthabern ein Dorn im Auge sind. Die immer prekärer werdenden Zustände in Moskau zwingen ihn und seine Familie schließlich zur Flucht auf das im Ural liegende, ländliche Anwesen der Gromekos, nichtsahnend, dass seine Geliebte im Nachbarort wohnhaft ist. Der als Folge der Revolution entstandene Bürgerkrieg macht vor ihrem vermeintlich sicheren Zufluchtsort nicht halt. Pascha Antipov ist zwischenzeitlich unter dem Namen Strelnikow zum Führer der Roten Armee aufgestiegen und hat seine Ehefrau Lara nie aus den Augen verloren. So entgeht ihm nicht die Affäre von ihr und Schiwago. Von Eifersucht getrieben befiehlt er die Entführung des Arztes und zwingt ihn in den Dienst seiner Streitmacht. Nach langem Kampf gelingt diesem die Flucht. Am Ende seiner Kräfte erreicht er den Landsitz im Ural, wo er von Lara gesund gepflegt wird. Von ihr erfährt er, dass seine Frau mit ihrem gemeinsamen Sohn aus Russland fliehen musste. Für eine kurze Zeit genießen Jurij und seine Geliebte ihre ungestörte Zweisamkeit, bis das Schicksal erneut zuschlägt.
Man mag sich die Frage stellen, ob es klug ist, im Hinblick auf verschiedene politische Machtspiele solch ein brisantes Stück aufzuführen. Kunst hat nicht nur den Auftrag, Menschen zu unterhalten und ihnen eine Pause vom Alltag zu gönnen, sondern sollte auf eine ganz eigene Art die Zuschauer zum Nachdenken anregen. Ebenso wie die Gedanken frei sind, ist die Kunst frei, unabhängig sein zu dürfen von moralischen und gesellschaftlichen Zwängen und Vorgaben. Mit der Wiederaufnahme von »Doktor Schiwago« zeigt Cusch Jung erneut, dass dieses literarische Monument seinen berechtigten Platz an der Musikalischen Komödie in Leipzig innehat. Empathisch gelingt ihm die Inszenierung. Dabei setzt er neben großen Momenten auf kleine Details, die die Aufführung authentisch machen: Leichen schleichen sich im Schatten nicht von der Bühne, sondern werden getragen oder davon geschleift. Sein Licht-Arrangement unterstreicht die Dunkelheit der Geschehnisse und wirkt dennoch nicht erdrückend. Taschenlampenschwingende Partisanen, die nicht nur den geflohenen Gefangenen suchen, setzen ebenso Akzente wie das zur rechten Zeit beleuchtete Bühnenende. Gleichermaßen harmonisch fügt sich das Bühnenbild von Karin Fritz ein. Durch viele bewegliche Elemente sind temporeiche Szenenwechsel möglich, die der Inszenierung ein cineastisches Flair verleihen. Die Spielfläche steigt nach hinten an, wodurch Exekutionen ebenso eindrucksvoll wirken wie der Einzug der Roten Armee, und gleichzeitig werden mit wenigen Handgriffen Wände aufgestellt, die die Authentizität des spartanisch eingerichteten Kriegslazaretts unterstreichen. Bei den Kostümen orientiert sich Karin Fritz an der Zeit, zu der das Musical spielt. Gedeckte Farben gehören hierbei ebenso dazu wie die bunten Frauenkleider beim folkloristischen Tanz. Nicht nur hier finden sich russische Einflüsse wieder, auch die Choreographie von Mirko Mahr bedient sich volkstümlicher Elemente, die sich stimmig in das Gesamtkonzept integrieren. Gleichermaßen werden die politische und persönliche Entwicklung der Handlung und der einzelnen Charaktere unterstrichen.
Das Orchester der Musikalischen Komödie spielt unter der Leitung von Christoph-Johannes Eichhorn fulminant auf. Die Partitur von Lucy Simon erklingt mühelos mal laut und mal leise. Die brutal ehrliche Darstellung des Krieges und der Revolution wird ebenso von der Musik getragen, wie die zahlreichen Balladen den Schrecken nicht nehmen können, die aber für Pausen sorgen, ohne kitschig zu sein. Der Ton (Christian Häntzschel) ist erstklassig ausbalanciert, sodass nicht nur das Zusehen ein wahrer Genuss ist.
Dazu kommen die fantastischen Darsteller, die die Dynamik des Musicals qualitätvoll in den Zuschauerraum transportieren. Yngve Gasoy-Romdal lebt seinen Jurij Schiwago und bietet die Zerrissenheit seines Herzens und seiner Machtlosigkeit gegenüber der politischen Situation mit viel Herzblut dar. Man nimmt ihm ab, dass der Hippokratische Eid, den sein Protagonist geleistet hat, und die Entwicklung im Krieg und der anschließenden Flucht vor den Häschern des neuen Regimes ihn in ein moralisches Dilemma führen. Dazu noch die Liebe zu zwei Frauen, der er sich nicht entziehen kann. Dabei schöpft er die emotionale Bandbreite voll aus und untermalt seine Darstellung nicht nur bei ›Wer ist sie?‹ gesanglich perfekt. Die Beziehung zu Tonia, Schiwagos Ehefrau, wird mit ›Sieh zum Mond‹ im Duett mit Nora Lentner wundervoll eingefangen und lässt die Liebe der beiden zueinander trotz der grausamen Umstände, dass der Arzt in den Krieg ziehen muss, hoffnungsvoll erstrahlen. Und das, obwohl zu dem Zeitpunkt der Gedanke an eine andere Frau immer mehr Raum in Jurijs Kopf einnimmt. Mit ebenjener Lara, die von Olivia Delauré gespielt wird, agiert Gasoy-Romdal gleichermaßen schauspielerisch und stimmlich harmonisch. Mit ›Jenseits aller Zeiten‹ erfahren ihre Protagonisten am Ende kurzweiliges Glück und die Hoffnung auf eine bessere und gemeinsame Zukunft. Bei dem Zusammentreffen der beiden Frauen spürt man sogleich die gegenseitige Akzeptanz und das Verständnis für die Liebe von Jurij zur jeweils anderen. ›Trotzdem wundert es mich nicht‹ bringt die Stimmen von Lentner und Delauré vollendet zusammen und trägt alleine durch diese Darbietung das Musical ein großes Stück mit. Besonders Letztere erzeugt zudem mit ihrem Lied ›Wenn die Geige sang‹ absolute Gänsehaut.
Insgesamt kann Cusch Jung auf ein umwerfendes Ensemble zurückgreifen, das seine Inszenierung ungeachtet der düsteren Thematik zu einem glanzvollen Musicalerlebnis werden lässt. Trotz einer Spieldauer von drei Stunden gelingt eine kurzweilige Aufführung, die einen die Zeit vergessen lässt, da von Anfang bis Ende einfach alles stimmig ist. Musikalisch mag Lucy Simon keine typischen Ohrwürmer geschaffen haben, dennoch lassen ihre Kompositionen die Geschehnisse lange in einem nachklingen.