Ein kleines Dorf im Süden Polens: Juden, Katholiken und Orthodoxe leben friedlich miteinander; Kinder feiern Chanukka und Weihnachten, letzteres sogar zweimal, da der orthodoxe Ritus im Januar begangen wird. Aus dieser idyllischen Welt wird der Schneider (Matthew Zajac) von der russischen Armee herausgezerrt. Eine Odyssee quer durch Europa, den Orient und Nordafrika beginnt, bis er sich nach dem Krieg in Inverness, einem Städtchen im Norden Schottlands, niederlässt. Da ist seine Heimat längst nicht mehr polnisch, denn die Grenzen haben sich mit Kriegsende verschoben und die Region gehört nun der Ukraine an.
In »The Tailor of Inverness« (dt. Der Schneider von Inverness) beschreibt Matthew Zajac in seiner von ihm geschriebenen Ein-Mann-Show die Geschichte seines Vaters. Begleitet wird er auf der Violine von Jonny Hardie. Die von Hardie und Gavin Marwick geschriebene Musik dient vornehmlich zur Untermalung, eingesprenkelt sind traditionelle polnische, russische und schottische Melodien. Es ist aber spannend zu hören, wie die Violine in der Tat die schottischen Highlands heraufbeschwören kann oder ein Schtetl in Galizien. Ein wenig getanzt wird auch. Sehr sparsam, aber effektiv, da es in diesen Momenten doch ein Lebensgefühl und Feierlichkeiten vergegenwärtigt.
Es ist ganz sicher kein klassisches Musical, eher ein Stück mit Musik, das mit seiner Geschichte entfernt an das Musical »The Grand Tour« erinnert, in dem der polnisch-jüdische Intellektelle Jacobowsky auf abenteuerliche Weise vor den Nazis aus Frankreich nach England flüchtet. Es ist eines der weniger bekannten Stücke von Michael Stewart und Mark Bramble (Buch) und Jerry Herman, der die Musik und Liedtexte lieferte. Es war 2015 ebenfalls am Finborough Theatre zu sehen.
Aber zurück zum Schneider hier. Er ist kein Jude, aber das jüdische Umfeld spielt eine prominente Rolle in seinem Leben, hat er doch nicht zuletzt von einem Juden das Schneiderhandwerk gelernt, mit dem er sich nach dem Krieg wieder eine Existenz aufbauen kann. Zajac schlüpft für die Erzählung in die Rolle seines Vaters und bietet ein hervorragendes Portrait der verschiedenen Zeiten und Welten. Er erzählt, wie es ihm gelang, in Schottland als dort gestrandeter polnischer Soldat eine bescheidene Karriere zu machen. Eindringlich sind aber vor allem die Wirren des Krieges geschildert, wo Zajac viel Spurensuche betreiben musste, um zu erfahren, was mit seinem Vater in dieser Zeit geschah. Die Rekrutierung durch die Russen war erst der Anfang. Wie ein Blatt, das den politischen Winden ausgesetzt ist, gerät er in deutsche Gefangenschaft und muss unter diesen Befehlshabern kämpfen, dann wieder unter den Russen. Eine Karte illustriert die extensive Route von der fast tödlichen Kälte in den Steppen Russlands bis zur brennenden Sonne in Afrika. Schließlich gerät er in die britische Armee. Dazwischen gibt es Erinnerungen an sein Heimatdorf in Polen. Zum Ende hin reicht die Spurensuche bis in die Gegenwart, aber das ist der schwächere Teil.
Auch wenn die Gefangenenlager und Soldatenmärsche kreuz und quer durch die Kontinente kein selbst gewähltes Abenteuer sind, ist es doch eine abenteuerliche Geschichte voller Not und Pein, die einen sich wundern lässt, warum auf der Welt immer noch Krieg geführt wird. Auch die Frage der Identität wird aufgeworfen: Was macht es mit einem, wenn man in einer Kultur aufwächst und dann in eine andere hinein sozialisiert wird? Ist der Schneider dann ein polnischer Schotte?
Zajac lässt diese verschiedenen Welten hervorragend lebendig werden. Sei es über einen Schneidertisch, an dem er zuweilen arbeitet; die verschiedenen Anzüge (Bühne und Kostüm: Ali Maclaurin), in die er schlüpft, die an einem Garderobeständer hängen, oder die verschiedenen Schals, die weibliche Charaktere symbolisieren. Die von Tim Reid und Jamie Wardrop gestalteten Projektionen an der Wand wie die eines Sternenhimmels oder eines winterlichen Waldes tragen sehr zur Atmosphäre bei. Sie bieten auch die Übersetzungen der Liedtexte, die auf Polnisch gesungen werden – Volksweisen, die dem Stück Authentizität verleihen.
Unter Ben Harrisons Regie ist eine schönes Kammerstück entstanden, das zeigt, wie sehr das Schicksal eines Menschen den großen politischen Umwälzungen und der Geschichte des 20. Jahrhunderts unterlag und wie dankbar man sein kann, wenn man etwas Selbstbestimmung zurückbekommt.