Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt – »Irena« vom Teatr Muzyczny in Poznań als Gastspiel im Admiralspalast Berlin

Foto: Dawid Stube

Dass es keine gewöhnliche Musical-Premiere werden würde im Berliner Admiralspalast, merkte man schon beim Hereinkommen: Gefühlt mindestens die Hälfte des Publikums sprach Polnisch. In ihren Begrüßungsansprachen wiesen sowohl der Direktor des Theaters in Poznań, Przemysław Kieliszewski, als auch der polnische Botschafter in Deutschland, Dariusz Pawłoś, auf das besondere Thema hin: Das Musical »Irena« über die Frau, die 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete. Es basiert auf einem Dokumentarfilm der amerikanischen Filmregisseurin Mary Skinner, die auch das Buch für das Musical schrieb (ein Interview mit ihr zu ihrer Arbeit über und mit Irena Sendler werden wir in der Ausgabe Nr. 130/ 04/2024 bringen), zusammen mit Piotr Piwowarczyk, der an diesem Nachmittag ebenso wie Komponist und Grammy- Włodek Pawlik persönlich anwesend war. Die Liedtexte stammen vom renommierten amerikanischen Librettisten Mark Campbell und wurden von Piwowarczyk und Lesław Haliński übersetzt. Die Uraufführung war am 27. August 2022 in Poznań. Das Stück kam nun, symbolisch am »Gedenktag für die Märtyrer und Helden des Holocaust«, der in diesem Jahr auf den 5. Mai fällt, nach Berlin. Es wurde für das deutsche Publikum mit deutschen Übertiteln gespielt (allerdings klang die Übersetzung manchmal etwas merkwürdig).

Foto: Dawid Stube

Irena Sendler, 1910 in Warschau geboren, war die Tochter eines Arztes. Von ihm übernahm sie die Maxime: »Ertrinkenden muss man die Hand reichen«, die ihr Handeln ein Leben lang prägte. In den 1930er Jahren arbeitete sie im Warschauer Sozialamt. Als die Nazis 1939 Polen überfielen, nutzte sie diese Arbeit, um jüdischen Mitbürgern illegal zu helfen. Hier setzt das Musical ein. Mit einer Rahmenhandlung, in der eine alte Irena (hervorragende Charakterdarstellerin und Sängerin: Oksana Hamerska) im Seniorenheim Besuch bekommt von einem der Jungen, den sie gerettet hat (Wiesław Paprzycki), beginnt das Musical und erzählt dann in Rückblenden von Irena, ihren Kolleginnen Jaga (Katarzyna Tapek), Jan (Tobiasz Szafraniak), ihrer Helferin Magda (Joanna Rybka-Sołtysiak), ihrem Liebhaber Adam (Radosław Elis) und wie sie alle zusammen unter großer Gefahr für sich selber zusammenarbeiten, um jüdische Kinder wie Icek Grünberg (Piotr Hamerski) zu retten, dessen Mutter (Anna Lasota mit der neben Hamerska stimmlich stärksten Leistung des Nachmittags) in grenzenloser Liebe ihr Kind fortschickt, damit es überleben kann (das Wiedersehen dieser beiden nach dem Krieg, den sie beide als einzige Familienmitglieder überlebt haben, geht szenisch sehr unter die Haut). Am Ende ihres Lebens zieht Irena Bilanz: Ihre Aufgabe und ihre ständige Arbeit haben sie ihr Familienglück gekostet Adam hat sie schließlich verlassen und das Verhältnis zu ihren eigenen Kindern war schwierig, aber immer hört sie in ihrer Erinnerung die Stimmen der Kinder, für die sie das alles getan und die sie gerettet hat. Sie werden sie bis zum Tod begleiten.

Foto: Dawid Stube

Die Inszenierung von Brian Kite kommt mit sehr einfachen Mitteln aus, ein paar Wände, einige Requisiten. Ein guter Einfall war es, das Bühnenbild durch wie von Kinderhand gemalte Bilder anzudeuten (Damian Styrna), was in seiner Abstraktheit zusammen mit den Projektionen (Damian und Eliasz Styrna) und dem stimmigen Lichtdesign (Tadeusz Trylski) für eine fesselnde Atmosphäre sorgte. Dagegen waren die Kostüme von Anna Chadaj realistisch an die 1940er Jahre angelehnt. Die Choreographie der Broadway-erfahrenen Dana Solimando hat wenige Momente zum Glänzen, funktioniert aber gut. Der musikalische Leiter Łukasz Pawlik, der auch die Arrangements besorgte, hat die Solisten wie sein Orchester unauffällig und mit sicherem Gespür für die musikalischen Höhepunkte im Griff.

Das Publikum im vollen, aber nicht ausverkauften Admiralspalast feierte alle Mitwirkenden mit herzlichem Applaus und Standing Ovations. Am Ende hielt der Nachmittag noch einen letzten Höhepunkt bereit: Elżbieta Ficowska, eines der Babys, die Irena damals aus dem Ghetto rettete und heute eine beeindruckende ältere Dame mit viel Charisma, berichtete von ihrem Leben bei einer liebevollen polnischen Familie, ihrem Kontakt zu Irena Sendler als Erwachsene und wie sie es als ihre Aufgabe sieht, an Irena zu erinnern. Und sie hat eine wichtige Botschaft and das deutsche Publikum: Sie sollten sich nicht schuldig fühlen, denn es sei nicht ihre Schuld, was damals geschah. Sie sollten sich nur daran erinnern und daraus lernen, dass das Wichtigste im Leben die Liebe sei, die auch den schlimmsten Horror des Kriegs überwinden könne. Oder wie Irena es zu sagen pflegte: »Die Menschen sollten in Gut und Böse eingeteilt werden. Rasse, Herkunft, Religion, Bildung, Reichtum – sie spielen keine Rolle, nur was für ein Mensch jemand ist.«

Die ausführliche Kritik zu diesem Stück erscheint in der Ausgabe 130 / 04_2024.