»Man kann auch Verantwortung übernehmen, ohne das eigene Leben zu riskieren.« Vera Bolten & Alex Melcher im Interview

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Blickpunkt musical: Die Uraufführung Ihres Musicals steht kurz bevor, im Moment ist es wahnsinnig stressig und natürlich sind alle Augen nach vorn, auf den kommenden Montag, gerichtet. Ich würde aber trotzdem noch einmal zurückschauen, dahin, wie alles begann – ich habe gelesen, dass Sie, Herr Melcher, die Idee schon vor sehr vielen Jahren hatten, damals in Wien.

Alex Melcher: Ja, genau – also strenggenommen hat mich meine damalige Freundin darauf gebracht. Mir ging es wie vielen, ich hatte die Namen schon einmal gehört, konnte aber nichts Genaueres damit anfangen. Also habe ich ein bisschen recherchiert und wollte eigentlich auch sofort mit dem Schreiben von dem Stück anfangen, aber das hat überhaupt nicht funktioniert. Ich war einfach noch nicht so weit, ich habe es mir innerlich nicht zugetraut. Ich habe mich in den Jahren darauf immer wieder damit beschäftigt, aber entweder fehlte die Zeit oder der/die richtige Partner/in. Diese habe ich dann ja Gott sei Dank gefunden. (lacht) Aber wie gut es mit uns funktionieren würde, habe ich damals nicht gewusst, nicht mal geahnt. Vera hat das völlig für sich eingenommen, sie hat so viel recherchiert und so viel, auch abgesehen vom Schreiben, nebenbei gelernt – ich hätte wirklich niemand besseren an meiner Seite finden können!

Blimu: Was für ein wunderschönes Kompliment!

Vera Bolten: Ja, wir sind da in der Tat zusammen reingewachsen. Wir wohnen in einem Haus; Alex hat im Keller sein Studio, ich mein Arbeitszimmer im ersten Stock und wir haben uns immer in der Küche getroffen und Sachen diskutiert. Mit den neuen Erkenntnissen und Ideen ist dann jeder von uns wieder zurück in sein Zimmer und hat weitergearbeitet. Das war total praktisch und natürlich auch schön, aber man muss als Paar auch aufpassen, weil man ja nie wirklich aus dem Thema rauskommt.

Blimu: Sie sind beide in der Musical-Szene vor allem für Auftritte auf der Bühne bekannt – jetzt einen Seitenwechsel zu machen und ein komplettes Stück zu schreiben / dramaturgisch auszuarbeiten, war sicherlich herausfordernd. Dazu gehört auch, die finanzielle Seite zum Beispiel zu bedenken, Entscheidungen zu treffen, die vielleicht nicht populär bei den Darstellern sind etc.

VB: Ja, bis ein Stück wirklich auf die Bühne kommt, ist es mit unglaublich viel Aufwand und noch mehr helfenden Händen verbunden. Der große Vorteil von uns ist, dass wir bei je über 20 Jahren im Business und vielen Uraufführungen, in denen wir mitspielen durften, auch sehr viel mitbekommen haben. Dazu kommt, dass ich auch schon Konzepte entwickelt hatte, für das KaTiElli-Theater habe ich auch schon ein ganzes Stück geschrieben und dort Regie geführt. Ich glaube, dass sich das ganz dynamisch bei uns entwickelt hat, dass wir jetzt zu diesem Schritt gekommen sind.

AM: Und man bekommt ja auch sehr viele Dinge in den vielen Jahren auf der Bühne mit. Sachen, die für einen total gut funktionieren, Sachen, die überhaupt nicht funktionieren. Und man baut natürlich auch mit jeder Produktion sein Netzwerk auf. Spannenderweise nimmt man es tatsächlich immer ein bisschen so wahr, als wären es gegnerische Parteien, Produzenten und Darsteller. Wir waren aber beide auch als Darsteller schon immer am Blick hinter die Kulissen interessiert. Das hilft jetzt natürlich. Für mich selbst kann ich sagen, dass ich immer Lieder geschrieben und Alben veröffentlicht habe. Ein ganzes Stück zu schreiben ist da nur logisch. Ich liebe es, Darsteller zu sein, aber ich wollte auch mal etwas schaffen, wo ich nicht »nur« Dinge von anderen Menschen interpretiere.

VB: Im Endeffekt machen wir ja dasselbe weiter, was wir immer gemacht haben. Wir erzählen Geschichten und bringen diese zu den Zuschauern. In diesem Fall machen wir das nicht als Darsteller, sondern mit Hilfe von Darstellern. Und wir beide wollen jetzt ja nicht für immer hinter die Bühne, im Gegenteil. Das Leben in unserem Beruf ist fließend, manchmal steht mal das eine, manchmal das andere im Vordergrund. Im Moment ist halt unser eigenes Stück und alles, was damit zusammenhängt, im Vordergrund. Ich musste jetzt zum Beispiel lernen, wie man Finanzpläne schreibt – so etwas ist wirklich völlig neu für mich. Aber darum, dass man sich immer weiterentwickeln kann, darum geht es doch immer im Leben.

Blimu: Was ich sehr bewundert habe, weil es so leider im deutschsprachigen Raum viel zu wenig stattfindet – Sie haben schon Jahre vor der Uraufführung mit Publikum an dem Stück gearbeitet. Es gab eine Lesung, es gab einen Workshop und dann gab es nochmal eine Aufführung von Szenen aus dem Stück auf dem OberFringe. Können Sie sich noch an den Moment erinnern, damals bei der Lesung, als tatsächlich Ihr Werk das allererste Mal als Ganzes gelesen wurde?

VB: Für mich war das der absolute Hammer – wir hatten dafür Kollegen angefragt, mit denen wir gern zusammenarbeiten. Also waren es einfach sehr viele Freunde von uns, mit denen wir drei Tage lang alles durchgesungen und -gelesen haben, um zu schauen, was funktioniert und was nicht. Zu dem Zeitpunkt ist dann auch direkt eine Stunde an Material rausgefallen, Szenen und auch ganze Songs. Aber es gab auch einen Moment, wo wir da alle standen und sie sangen unsere Lieder und jeder fühlte auf einmal die Energie – das war ein sehr, sehr berührender Moment. Für uns alle, die da miteinander in dem Raum waren.

AM: Ja, das war total schön, aber ehrlich gesagt fehlte mir zu dem Zeitpunkt noch total die eigene Sicherheit. Bei einigen Liedern habe ich gleich gespürt, dass sie funktionieren – oder auch nicht. Bei anderen war es allerdings nicht so klar. Für mich selbst war, ganz ehrlich, der Workshop dann der Moment, wo ich auf einmal dachte: »Wow, was passiert da gerade!«

VB: Der Workshop war tatsächlich, vom Gefühl her, wie ein riesiges Weihnachtsgeschenk, was wir uns selbst gemacht haben. Wir haben da alles nach unseren Wünschen organisiert, meine Familie hat mitgeholfen, meine Eltern haben das Essen gemacht und wie ein Caterer dann mittags für alle vorbeigebracht. Es gab nichts, was nicht exakt so war, wie wir es wollten.

AM: Das ist das, was eine Stück-Entwicklung eigentlich braucht. Wir haben das Konzept im Grunde vom Broadway oder West End übernommen und hatten das Glück, dass wir da finanziell unterstützt wurden. Für so eine Phase ist in Deutschland kein Geld vorgesehen, es gibt weder Förderungen noch Strukturen dafür.

VB: Das OberFringe von der Deutschen Musical Akademie versucht ja genau das.

AM: Ja, aber da hätten wir, ohne die ganze Vorarbeit, auch nicht hingekonnt. Also das wir da unseren Auftritt so hatten, dass wir dort letztendlich einen Produzenten überzeugen konnten, lag daran, dass wir schon vorher so viel Unterstützung von unserer Familie und unseren Freunden hatten – und auch einen finanziellen Förderer. Wir hatten z. B. auch das Konzept mit den Kisten, die auf der Bühne ständig ein neues Bild kreieren, schon genau so, aber auch nur, weil wir es im Workshop erarbeitet hatten. Und Benjamin Sahler und Dirk Schattner vom Festspielhaus haben damals schon gesagt, dass sie das auf jeden Fall beibehalten wollen.

VB: Ja, das stimmt, das hatten wir schon im Workshop entwickelt. Ehrlich gesagt ist überhaupt ganz viel geblieben von damals, es wird hier jetzt nur noch mehr ausgebaut und vor allem der Bühne und den Möglichkeiten angepasst.

AM: Und das meine ich. Dass das alles so entstanden ist, dass wir mit dem Workshop die Möglichkeit hatten, erst einmal alles nach unseren eigenen Wünschen aufzubauen, war unfassbar wertvoll. Dafür braucht es mehr Unterstützung in Deutschland, damit die Stücke dann auch »fertiger« auf die Bühne kommen. Und um auf die Frage zurückzukommen – der Workshop, bzw. dann die Präsentation davon im kleinen Saal im Düsseldorfer Capitol, dass war für mich tatsächlich der Schlüsselmoment. Wir hatten 300 Leute, die sich unser Werk angeschaut haben. Für mich ist es immer sehr wichtig, dass ich etwas mache, was mir persönlich gut gefällt, ich muss die Kunst, die ich schaffe, in erster Linie selbst mögen. Bis zu dem Moment, in dem die Zuschauer es dann gesehen hatten, hatte ich keine Ahnung, ob das, was ich gut finde, auch andere gut finden würden. Und ehrlich gesagt ist es keine Übertreibung zu sagen, dass es denen gefallen hat. Das war für mich tatsächlich der Wendepunkt, 100% daran zu glauben, dass das Stück funktionieren wird. Nicht, ob es finanziell funktionieren wird – das ist eine ganz andere Frage. Aber das kollektive Gefühl, was sich beim Publikum entwickelt hat, funktioniert. Das war genau das, was ich mir, was wir uns, gewünscht haben.

VB: Man muss natürlich schon sagen, dass an dem Abend viele Freunde und unsere Familien da waren. Aber warum auch nicht, die gehören ja auch dazu und haben ihre Meinung.

Blimu: Und jeder, der in diesem Bereich arbeitet, weiß, dass nichts nur von einzelnen Personen geschaffen werden kann. Selbst wenn dann da nur ein oder zwei Namen auf dem Plakat stehen, sind in Wahrheit so viele mehr daran beschäftigt, egal ob wirklich aktiv oder mit seelischer Unterstützung. Ein Sprichwort sagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen – das ist bei der Entstehung eines Musicals nicht anders.

AM: Ja, auf jeden Fall. Und gerade, wenn es dann darum geht, dass man es wirklich auf die Bühne bringt, braucht man Menschen, die sich auch etwas trauen. Die bereit sind, dass finanzielle Risiko zu tragen. In Deutschland gibt es noch keine Musikkultur dafür, dass es alles geben darf, ernste genauso wie lustige Stoffe. Am Broadway ist es völlig normal, dass dort auch Sachen wie »Spring Awakening«, »Next to Normal« etc. laufen. Aber hier hat man ein Publikum, was vor allem unterhalten werden will, wenn wir da mit unserem Stück kommen, wird gesagt, dass das ja kein richtiges Musical sei. Das wird weder bei Filmen noch in der klassischen Musik gemacht, aber beim Musical schon. So wurden die Zuschauer erzogen, sie wollen einfach nur einen schönen Abend haben. Aber – warum sollten sich denn ein schöner Abend und ein ernstes Thema gegenseitig ausschließen? Kollektives Lachen ist großartig – kollektives Weinen aber doch auch! Das Stück hätte ich eigentlich eher bei den Stadt/Staatstheatern gesehen, jetzt an zwei großen, kommerziellen Häusern zu spielen ist für diese natürlich ein noch größeres Wagnis.

Blimu: Der Vorteil ist aber, dass sich die Leute von den Theatern sehr bewusst für Sie und das Stück entschieden haben. Hier arbeiten extrem begeisterte Theatermenschen, was den ohnehin schwierigen Prozess der vielen Entwicklungsschritte bis zur Uraufführung sicher einfacher macht.

VB: Ja, wir sind wirklich überglücklich mit dem Team, was wir hier hinter uns haben. Wir wollen als Kreative das bestmögliche auf die Bühne bringen und das wird uns ermöglicht. Das ist wirklich Luxus. Auch wenn man natürlich argumentieren könnte, dass das Stück eigentlich kleiner / intimer ist, als es dieser Rahmen wäre.

AM: Dieser Luxus ist wirklich nicht selbstverständlich. Wir sehen es aber auch als Chance, hier das Publikum mit etwas zu begeistern, was sie sich sonst vielleicht nicht anschauen würden. Und, was für uns und für das Haus wichtig bei der Thematik war und uns alle entsprechend sehr freut: Die Schulvorstellungen sind ausverkauft!

Blimu: Im Moment laufen die Endproben und die sind bei einer Uraufführung ja immer sehr intensiv – vieles wird noch einmal geändert / überarbeitet / gekürzt. Wie nehmen Sie es gerade wahr, gab es z. B. diesen Moment mit »Kill your Darlings« schon?

VB: Ich würde sagen, dass wir durch die gute Vorarbeit und dadurch, dass wir gut gecastet haben – und zwar nicht nur die Menschen auf der Bühne, sondern auch vor allem die im Kreativteam – hier vor allem wirklich großartige Moment erleben. Für mich ist Bart De Clercq zum Beispiel so jemanden. Also nicht jetzt erst in Füssen, er war ja schon beim Workshop dabei, aber hier hatten wir jetzt noch mehr Zeit miteinander. Ich arbeite szenisch an etwas, er macht dann Choreografien, auf die ich nie gekommen wäre. Also wo ich mir wirklich nicht hätte vorstellen können, wie viel man mit Körper und Bewegung erzählen kann. Das ist für mich eine Offenbarung, und mit ihm haben wir einige Szenen noch einmal auf einen ganz anderen Level heben können. Und Tanz mit dieser Thematik zu verbinden, ist vielleicht auch nicht der natürlichste Schritt – aber alles, was hier passiert, passiert einfach so, ganz selbstverständlich.

AM: Ja, es gibt sicher genug Menschen, die sich denken: »Oh Gott, Musical, und am Ende tanzen die Scholls dann womöglich auch noch.« Aber ich liebe Tanztheater und das war immer die Richtung, die ich dafür wollte. Nicht Musical-Tanz, sondern Tanztheater-Tanz. Und Bart ist da perfekt, er hat das Können und das Wissen darum. Ich zum Beispiel wusste, dass ich musikalisch meine Grenzen habe. Also habe ich bewusst jemanden um Hilfe gebeten, der ein absoluter Profi ist, von dem ich weiß, wie er denkt und arbeitet. Marc Tritschler kenne ich von »We Will Rock You«, er war dann auch auf ein paar Konzerten von mir mit dabei und arbeitet seit sieben Jahren am National Theatre in London. Er konnte einfach nur eine große Bereicherung sein. The best Team wins.

VB: Ja, wir arbeiten tatsächlich als Team, auch mit den Darstellern. Egal, in welcher Phase – wenn jemand einen Gedanken oder eine Idee hat, darf er/sie sie äußern, dann reden wir darüber, improvisieren vielleicht mal und dadurch entwickeln sich dann Dinge, auf die wir vorher oft gar nicht gekommen wären. Und das ist ja das Optimale, wenn wir aus einem Pool schöpfen können, wo jeder seine Kreativität einbringen kann.

Blimu: Ich würde gerne noch einmal einen kurzen Moment in der Geschichte des Entstehungsprozesses zurückgehen. Mein Professor hat mir einmal die sehr weisen Worte gesagt, dass jede Geschichte schon einmal erdacht wurde, nur nicht von mir. Das hat mir persönlich viel geholfen, wenn es um die Selbstzweifel ging, ob etwas, an was man gerade arbeite, denn wirklich noch lohnenswert ist, weil jemand anderes hat doch schon… Sie hatten diesen Moment ganz extrem, denn auf Ihrem Weg, nach der Lesung, wurde bekanntgegeben, dass Thomas Borchert und Titus Hoffmann ein Scholl-Musical geschrieben haben. Was hat dieser Moment in Ihnen ausgelöst?

VB: Das war tatsächlich auch bei uns so – dass der Gedanke, dass nur wir es so erzählen können, wie es für uns richtig ist, überwiegte. Die Nachricht kam damals zwischen Lesung und Workshop, also der Workshop war schon geplant und ehrlich gesagt war das auch gut so. Denn im ersten Moment war es natürlich nicht schön.

AM: Ich hatte im Laufe der Jahre immer wieder gesagt, dass wir das jetzt endlich alles machen müssen, mir war ja klar, dass sich die Thematik für ein Musical einfach anbietet. Als es dann passiert ist, war ich tatsächlich wirklich geschockt. Meine erste Reaktion war, dass ich alles wegschmeißen wollte und aufhören. Vera sagte dann aber, ein oder zwei Tage später, dass wir schon viel zu viel investiert haben, dass wir nicht einfach aufhören können. Und sie hatte natürlich recht. Das ist so ein wichtiges Thema, die Geschichte kann eigentlich gar nicht oft genug erzählt werden. Und dazu kommt, dass ich natürlich in uns beiden auch die perfekte, sensible Weise gesehen habe, wie man die Geschichte ideal erzählt. Außerdem – wie viele »Romeo & Julia« Interpretationen gibt es? Und jede davon hat ihren ganz eigenen Schwerpunkt. Ich war aber dann trotzdem erleichtert, als ich gemerkt habe, dass das Stück von Titus und Thomas eine ganz andere Herangehensweise hat. Von daher ist jedes für sich eine Bereicherung. Das Einzige, was ich leider wirklich anstrengend finde, ist, dass das Publikum manchmal nicht bereit ist, genau zu schauen. Dass sie die Versionen verwechseln, nicht auf Termine achten, dass wir Kommentare bekommen zu Sachen, die sie in der anderen Variante gesehen haben und denken, dass das von uns wäre etc. Das ist etwas, was ich als Künstler dann schwierig finde. Viel schwieriger als die Tatsache, dass die Geschichte in zwei oder drei Varianten erzählt wird.

VB: Ja, ich glaube auch, dass die Stücke wirklich völlig unterschiedlich erzählt werden und man sie sich deswegen beide, bzw. dann mit der Wiener Uraufführung, auch alle drei Varianten problemlos anschauen kann und immer wieder was Neues, was anderes entdeckt.

Blimu: Was haben Sie denn für Schwerpunkte gesetzt?

VB: Unser Schwerpunkt ist, dass wir die Geschichte tatsächlich chronologisch nachvollziehbar von einem frühen Punkt ausgehend erzählen.

AM: Mein erster Gedanke vor den vielen Jahrzehnten war, dass wir uns natürlich auf Sophie konzentrieren müssen. Als aber dann Vera zu dem Projekt dazu kam, hat sie sehr schnell gesagt, dass sie eigentlich die Geschichte bei der weißen Rose sieht, wie die zustande gekommen ist. Und das sind viel mehr Personen, nicht nur Hans und Sophie.

VB: Wir fangen trotzdem mit den Geschwister Scholl an, an ihrem Esstisch daheim bei den Eltern. Wir haben da anhand sehr vieler originaler Texte tatsächlich belegt, wie die beiden begeisterte Anhänger der Hitlerjugend waren. Ihr Vater stand dem immer kritisch gegenüber, ihm war aber wichtig, dass seine Kinder lernen, selbst zu denken. Also hat er es hingenommen. Und diese Entwicklung, die Abkehr von dem Regime, das Realisieren der Tatsachen – das lässt sich anhand der beiden in unseren Augen am besten zeigen. In der Lesung hatten wir diese Form der Vorgeschichte noch von allen Mitgliedern, aber das wurde dann alles viel zu lang. Aber trotzdem hat jeder einzelne von ihnen seinen wichtigen Part in der Geschichte. Wir wollen zeigen, warum welche Entscheidungen getroffen wurden. Wer hat das erste Flugblatt geschrieben – warum zum Beispiel wurde Christoph ganz bewusst nicht eingeweiht?

AM: Was uns auch wichtig ist, ist, dass wir die Geschichte so erzählen, dass man tatsächlich keine Vorkenntnisse braucht. Wir haben gemerkt, dass viele nur sehr wenig oder auch gar nichts davon wissen. Also ist es wichtig, alles so darzustellen, dass man die Handlungen der Figuren immer nachvollziehen kann.

Blimu: So gibt es vielleicht auch die Möglichkeit, die Leute, die gerade unbewusst in so etwas reinschlittern, abzuholen. Die vielleicht nicht mehr neutrale Medien lesen, um sich wirklich zu informieren, die aber in das Stück gehen und sehen, wie viel näher das alles gerade an unserer Realität ist, als es viele bewusst haben wollen.

AM: Genau. Wenn man mit seiner Klasse hingeht, muss man hin. Und dann sitzt man drin und vielleicht gibt es dann einen Moment, wo man sich denkt: »Oh, Moment. Das kenne ich doch?« Wir bleiben natürlich immer in der Zeit der Geschichte, aber leider hat das Stück auch so viele hochaktuelle Momente, dass es sich fast anfühlt, als würden wir immer mal wieder im Jetzt landen. Diese ganze Gruppendynamik, die es damals gab, wird heute in den sozialen Medien widergespiegelt. Jugendliche stecken da oft drin, ohne das wirklich zu realisieren. Und wenn da jemand von dem Stück animiert wird, selbstständig nachzudenken und zu reflektieren, dann haben wir unser Ziel erreicht.

VB: Und durch die Darstellung auf der Bühne wird alles lebendig, es hebt die Geschichte aus den Geschichtsbüchern heraus. Man fängt an, ihre Entscheidungen wirklich nachvollziehen und verstehen zu können, ohne sie zu glorifizieren oder sie als abstrakt wahrzunehmen.

AM: Und man muss ja nicht Verantwortung übernehmen, indem man sein Leben riskiert – es reicht ja, wenn man Verantwortung übernimmt und anfängt, mit Menschen ernsthaft zu diskutieren und für seine eigene Meinung einsteht.

Blimu: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben – wir wünschen Ihnen viel Glück für die Uraufführung und hoffen, dass Sie viele Menschen mit diesem wichtigen Thema erreichen.

Weitere Informationen und Tickets: 
Die weiße Rose – Festspielhaus Neuschwanstein

Deutsches Theater München