Sunset Boulevard
London Revival Cast 2023
Gut Ding will manchmal Weile haben: Im Dezember 2023 wurden fünf Vorstellungen des West-End-Revivals (das im Herbst 2024 mit denselben Hauptdarstellern auch an den Broadway ging) von »Sunset Boulevard« im Savoy Theatre mitgeschnitten. Digital war das Live-Album seit Oktober 2024 erhältlich, auf die CD-Version musste man über den Importweg noch ein wenig länger warten. Dafür kommen die beiden Discs in einem modern und stilvoll designten, ganz in schwarz-weiß-rot gehaltenen Digipack daher. Noch länger dauert es für alle, die auf die »Limited Edition Black Version« warten, die ein alternatives Verpackungsdesign, mehr Fotos im (in der Standardversion leider sehr mageren) Booklet und eine »exklusive Artcard« enthalten soll. Von den unterschiedlichen Vinylversionen in rot und schwarz wollen wir gar nicht reden…
Die mal wieder absurde Veröffentlichungspolitik, an die man sich als Castalben-Sammler wohl oder übel gewöhnen muss, mal außen vor gelassen, präsentiert sich Andrew Lloyd Webbers Musical hier in einer exzellenten Verfassung. Dass das Werk schon über dreißig Jahre alt ist, merkt man beim Hören nicht wirklich. Regisseur Jamie Lloyd erregte mit seinem modernen, extrem reduzierten Inszenierungsansatz Aufsehen. Zugleich überarbeitete und kondensierte er das Stück: Die beiden »Comic Relief«-Nummern ›The Lady’s Paying‹ und ›Eternal Youth Is Worth a Little Suffering‹ wurden ersatzlos gestrichen, es gibt weitere Dialogkürzungen oder Songtext-Änderungen hier und da. Im Endergebnis kommt »Sunset Boulevard« so einem Film-noir-Thriller näher denn in jeder früheren Inkarnation. Die Atmosphäre ist schon auf dem Album enorm dicht. Im Theater muss das Erlebnis noch intensiver gewesen sein – nur äußerst selten bekommt das Publikum Gelegenheit zum Applaudieren, fast durchgängig wird der Spannungsbogen aufrechterhalten.
Mit Nicole Scherzinger als Norma Desmond hatte die Produktion sowohl in London als auch in New York eine Starbesetzung zu bieten, die für viel Gesprächsstoff sorgte. Ich muss gestehen, dass ich als jemand, der jeder Form von Hype erstmal skeptisch gegenübersteht, durchaus Zweifel hatte, ob Scherzinger mit ihrem Pop-Background der fordernden Rolle gesanglich und schauspielerisch würde gerecht werden können. Alle diesbezügliche Skepsis war jedoch völlig unbegründet: Nicole Scherzinger brilliert auf ganzer Linie. Wo Patti LuPone bei aller darstellerischen Intensität vor allem eine große Sängerin (und letztlich immer sie selbst) war und Glenn Close später fehlendes Stimmvolumen durch umso tiefere Schauspielkunst ausglich, gelingt Scherzinger die perfekte Verbindung aus beidem. Ihr gesanglicher Ansatz ist poppiger als der vieler Rollenvorgängerinnen, was perfekt zum modernen Ansatz der Produktion passt; gleichwohl wird sie der Partitur in jeder ihrer Nummern mit großem Stimmvolumen und breiter Ausdruckspalette gerecht. Manch langsam ausgesungenes Tempo (›With One Look‹), manche schier endlos gehaltene Note (›As If We Never Said Goodbye‹) ist Geschmackssache, das ändert aber nichts an der fulminanten Leistung Scherzingers, die sich auch im schauspielerischen Bereich fortsetzt. Wie schon in ihren ersten Szenen der später ausbrechende Wahnsinn gefährlich unter der Oberfläche lauert, wie sie in ungewohnten Momenten Humor einbringt und dadurch die Fallhöhe ihrer Figur noch vergrößert, wie sie am Ende auf schmerzhafte Weise jeden Kontakt zur Realität verliert, ist buchstäblich »großes Kino«. Mit dieser zu Recht gefeierten Interpretation reiht sich Nicole Scherzinger unter die besten Norma Desmonds aller Zeiten ein.
Zum Glück können die übrigen Castmitglieder der von Scherzinger gelegten Messlatte genügen: Tom Francis ist ein großartiger Joe Gillis, der vielleicht mehr Ecken und Kanten in diesen Charakter einbringt als jeder andere Darsteller vor ihm. Dadurch wird die nicht immer logisch erscheinende fatale Entscheidung, Norma am Ende doch zu verlassen, nachvollziehbar. David Thaxton gibt einen autoritären, charismatischen Max, und Grace Hodgett-Young beeindruckt in ihrem professionellen Debüt als toughe, selbstbewusste Betty – auch sie verkörpert eine sehr zeitgemäße Version dieser jungen Frau, die ihren Weg in der von Männern dominierten Hollywood-Welt sucht. Andrew Lloyd Webbers immer noch fantastische Partitur ist bei Alan Williams und seinem 17-köpfigen Orchester in besten Händen.
Abgerundet wird diese fulminante Neueinspielung eines modernen Klassikers durch eine perfekte Abmischung (Lee McCutcheon und Adam Fisher), die für satten, transparenten, räumlichen Klang auf der heimischen Stereoanlage sorgt – packendes Musiktheater für die Ohren in Perfektion.
Fazit: Grandiose Revivalfassung mit einer umwerfenden Nicole Scherzinger– ein Muss!
39 Titel
CD 1 67:14 min, CD 2 58:31 min
Doppel-CD im Digipack mit 8-seitigem Booklet (plus separates Inlay) mit Credits, Liner Notes und Fotos
Songliste:
Disc 1
- Overture
- Let Me Take You Back
- Let’s Do Lunch
- Betty’s Pitch
- The Car Chase
- Surrender
- With One Look
- Scene: Did you say you were a writer?
- Salome
- The Greatest Star Of All
- Schwab’s Drugstore
- Girl Meets Boy
- Scene: Where have you been?
- I Started Work
- What’s On This Evening?
- New Ways To Dream
- Scene: Today’s the day
- New Year’s Tango
- The Perfect Year
- This Time Next Year
- Scene: Happy New Year, darling
Disc 2 - Entr’acte
- Sunset Boulevard
- There’s Been A Call / It Took Her Three Days
- Arrival at Paramount
- Norma In The Studio
- As If We Never Said Goodbye
- Paramount Conversations / Surrender (Reprise)
- Girl Meets Boy (Reprise)
- Scene: Who’s Betty Schaefer? / I Should Have Stayed There
- Scene: The Back Lot
- Too Much In Love To Care
- Scene: I made her a star
- New Ways To Dream (Reprise)
- The Phone Call
- What’s Going On, Joe?
- No One Ever Leaves A Star
- Max, Where Am I?
- End Credits