Blickpunkt musical: Lieber Herr Nimsgern, nach dem erfolgreichem »Ring«, der mit mehreren Awards ausgezeichneten »Zauberflöte« folgt nun die dritte Oper, die Sie als Vorlage zu einem Musical genutzt haben.
Frank Nimsgern: Ja, in der Tat – wobei der »Freischütz« tatsächlich nur noch sehr rudimentär vorkommt. Aber bitte – nennen wir es doch „Opernstoff“. Denn ich hatte nie Interesse, die genialen Kompositionen neu zu arrangieren oder zu verändern.
Blimu: Ihr Vater Siegmund war ein berühmter Opernsänger und u.a. Grammy Award Gewinner, der an allen großen Opernhäuser der Welt und mit allen bekannten Dirigenten seiner Zeit gearbeitet hat. Entsprechend sind Sie als Kind in diesem Metier aufgewachsen, daher Ihre Verbundenheit zu dem Genre. Wie aber kam es zum »Freischütz«?
FN: Also in der Reihenfolge der Planungen ist eigentlich die »Zauberflöte« das letzte Werk, dass es vor »Seele für Seele«, wie es jetzt folgerichtig nur noch heißt, Uraufführung feierte, war eine Verknüpfung verschiedener Tatsachen. An »Seele für Seele« arbeiten wir schon lang: Ich hatte 2022 die Vertonung von Shakespeares »Sturm« für die Festspiele Luisenburg komponiert und bin in dem Rahmen auch mit meiner Tochter mal spazierengegangen. Eben auch in die Wolfsschlucht, die genau dort ist, die Basis, auf der erst die alten Märchen und dann eben auch die Oper basiert. Da wurde mir klar, wie perfekt das Thema für genau diesen Ort ist. Birgit Simmler hat dann aus der Thematik ein ganz neues Werk kreiert und es ist total spannend, es jetzt an dem Ort zu sehen, der der Ursprung für alles war.
Blimu: Was auf den ersten Blick auffällt, wenn man sich die CD anhört und dann die Cast anschaut – Jan Ammann, der auf der CD das Hauptlied singt, ist nicht Teil der Cast. Wie kam es denn dazu, dass er trotzdem die CD eingesungen hat?
FN: Nun, so, wie es auf der CD ist, ist es auf der Bühne ohnehin nicht. Jan singt eine Rolle, die sich in dem Stück drei Darsteller teilen. Ich kenne Jan schon sicher 15 Jahre und als ich ihm damals von dem Projekt erzählt habe, war er sofort Feuer und Flamme dafür. Dann gingen die Arbeiten am Stück aber voran und irgendwann wurde klar, dass es diese Rolle gar nicht geben wird. Ich wollte ihn aber unbedingt damit hören und habe eine Version geschaffen, die es wirklich nur auf der CD gibt. Im Stück wird das Lied mehrfach gesungen und immer wieder von anderen Personen – aber nie so. Bei der CD bin ich dieses Mal ehrlich gesagt sehr auf die veränderten Hörverhalten eingegangen: Streams werden heute nicht mehr wie früher einfach als ein Werk gehört, vom Anfang bis zum Schluss. Man kann ja auf den Plattformen genau sehen, welche Lieder wie oft gehört werden und da gibt es einen dramatischen Einschnitt nach den ersten zwei, evtl. noch drei Liedern. Wenn Menschen im Theater sitzen, sind sie bereit, sich auf ein Stück einzulassen. Wenn sie sich bewusst eine CD kaufen, im Zweifelsfall auch. Aber die wenigsten machen das noch, die Musik wird vor allem gestreamt. Und da unterliegt man heute ganz anderen Gesetzen des Erfolgs – entsprechend ist die Reihenfolge der Titel auch anders gewählt als sie dann auf der Bühne ist. Das Lied selbst aber ist ein tragender Pfeiler, wie schon erwähnt ist es eins der Leitmotive, welches immer wieder vorkommt.
Blimu: Wenngleich nicht der Beginn der CD, ist der ›Gefallener Engel‹ der Beginn des Stücks.
FN: Ja, das ist unser Prolog. Es geht um diesen gefallenen Engel, die tragische Figur, Samiel, bzw. Sam.
Blimu: Das ist auch das Lied, was fast am typischsten Frank Nimsgern ist. Es beginnt sehr klassisch mit großem Orchester, um dann in einen Rocksound über zu gehen.
FN: Ja. Ich wollte damit natürlich ein bisschen provozieren, nicht im klassischen Stil bleiben. Gefühlt wäre da zu wenig Mehrwert dabei gewesen, also das Lied hätte auch ohne die Gitarre funktioniert, aber wäre es dann irgendwie innovativ? Mit der Gitarre ersetze ich im Grunde die 1. Violine, habe trotzdem die Verneigung vor der klassischen Musik und kann so aber meinen eigenen Stil mit hinzugeben. Wenn man die Musik mit Kopfhörern hört, wird man viele Linien hören, die ich miteinander verbinde und nebeneinander einflechte. Ich bin ein großer Gustav-Mahler- und Richard-Wagner-Fan und mir ist es immer wichtiger, dass meine Musik mehrdimensional ist, dass es immer neues zum Entdecken für die Zuhörer gibt.
Blimu: Musikalisch wie auch optisch gibt es direkt bei ›Achterbahn‹ viel für die Zuschauer zu entdecken.
FN: Da bin ich musikalisch in dem geblieben, was man kennt und mit Jahrmarkt verbindet. Kontrabass, Akkordeon – man sieht das sofort als kleine Kombo in den Straßen eines Jahrmarkts in den 1920ern. Das ist ganz bewusst Oldschool, auch wenn niemand von uns die Zeit damals selbst miterlebt hat, hat jeder sofort ein inneres Bild, wenn er die Musik hört.
Blimu: Musikalisch eine neue Welt eröffnet dann ›Attentat‹.
FN: Ich habe in meiner Zeit am Friedrichstadtpalast sehr viel gelernt, unter anderem auch, dass Zuschauer musikalisch immer wieder neue Impulse brauchen und wollen. Bei ›Attentat‹ bekommen sie genau das. Musikalisch ist es eine ganz andere Richtung als es die Lieder davor waren. Da geht es kraftvoll nach vorn, da sitzt viel Schmackes dahinter, viel Rock. Es wird Leute geben, die den Song vielleicht nicht mögen, aber erfüllt seinen Zweck perfekt. Als Komponist ist man auch eine Art musikalischer Architekt. In all den Jahren habe ich gelernt, an welcher Stelle was hineinmuss, damit das ganze musikalische Gebäude gut funktioniert. Hier haben wir genau so einen Moment, wo es wichtig war, eine weitere Stütze zu errichten, um das Fundament des Stückes zu stärken.
Blimu: Auch sehr spannend – von ›Fehlbar‹ gibt es auf der CD zwei Versionen. Einmal als »normale-«, einmal als Theaterversion. Wo liegen da die Unterschiede?
FN: Die Theaterversion hat einen dramaturgisch starken Aufbau. Im Theater sind die Zuschauer bereit, alles, was auf der Bühne passiert, zu verfolgen. Da passt es perfekt, dass die eigentliche Explosion im Lied erst am Schluss stattfindet. Für Streamer braucht es das aber zu Beginn, sie müssen wir sofort erreichen, ihnen sofort zeigen, wohin die Reise bei dem Lied geht. Entsprechend war es für mich wichtig, dass wir bei der Singleauskopplung einen anderen Weg gehen – daher die zwei Versionen.
Blimu: Dann reden wir doch nochmal kurz um das eigentliche Kernstück, das, wo tatsächlich noch eine Verbeugung vor Carl Maria von Weber stattfindet – die ›Wolfsschlucht‹.
FN: Hier verknüpfen sich mein Werk und sein Werk. Ich habe den »Freischütz« schon als Kind gesehen und ich kann mich noch genau erinnern, dass ich damals an genau dieser Stelle immer Gänsehaut hatte. Nach dem Gießen der 7. Kugel – das war für mich immer der stärkste Moment. Und genau diesen Moment wollte ich unbedingt auch in dem Stück haben, daher genau diese 16 Takte von Weber. Wir steigen hier musikalisch mit ›Seele für Seele‹ ein, der Refrain davon liegt unter der neuen Melodie. Außerdem kommt auch ›Fehlbar‹ vor. Das all die Melodien dort zusammenfinden, nehmen die meisten Menschen vermutlich vor allem mit dem Unterbewusstsein wahr, zumal ich da ja auch mit der Instrumentalisierung spiele. Aber genau das macht die Erfolge gut geschriebener Musik aus. Damit hat Wagner begonnen, er war der erste, der in einer Oper die Musik psychologisch so hochintelligent strukturiert hat. Und auf dieser Basis funktionieren auch alle großartigen Filmmusiken – was wäre der Soundtrack von »Star Wars« ohne die Intelligenz von John Williams, mit der er die Melodien immer wieder verwoben hat?
Blimu: Es ist aber das einzig erkennbare Zitat, bei den anderen Musicals, egal ob »Ring« oder »Zauberflöte« haben Sie mehr Originale Melodien verwoben. Obwohl auch der »Freischütz« große Hits enthält, die nahezu jeder kennt.
FN: Ja, das war eine bewusste Entscheidung. Warum? Weil wir hier ein wirklich völlig neues Werk erzählen. Wir setzen den Mythos in eine andere Zeit, in eine andere Geschichte. Die Oper enthält einiges, was ich hätte nutzen können, und ich habe mich damit auch intensiv beschäftigt. ›Die Hölle Rache‹ aus der »Zauberflöte« hat die meisten Streams, warum? Weil wir nicht einfach nur einen Disco-Beat drunter gelegt haben, sondern wirklich etwas neues geschaffen haben. Das hätte ich hier mit dem ›Jägerchor‹ natürlich auch machen können – aber es hätte nicht gepasst. Nicht mehr zu der Musik, die ich kreiert habe und erst recht nicht zu dem Stück, was Birgit Simmler geschaffen hat. Das, was wir hier haben, ist wirklich einzigartig, es steht für sich. Und das merken wir auch bei dem Publikum – die Spielzeit in Füssen hat gezeigt, wie begeistert die Leute am Schluss sind. Jetzt in der Luisenburg können sie fast nochmal ein ganz neues Stück entdecken. Nicht nur, weil wir noch einmal viel Energie hineingesteckt haben, um es noch »runder« zu machen, sondern vor allem auch, weil die Kulisse mit den Bäumen und Felsen so einzigartig ist, dass es alles, was wir in Füssen gesehen haben, nochmal in eine ganz andere Sphäre hebt. Hier kommt tatsächlich die Mystik, die dem Stück thematisch inne ist, auch optisch voll zum Tragen.
Blimu: Wie so oft wird es auch hier bei diesem Stück die Kritik geben, dass es kein Orchester gibt, was an dem Abend live spielt. Es gibt natürlich Gründe, zum Beispiel könnten viele Theater Stücke gar nicht auf die Bühne bringen, wenn sie auch noch Abend für Abend ein Orchester bezahlen müssten. Und selbstverständlich ist es für einen Komponisten immer noch besser, ein Stück wird mit Playback gespielt, als das es gar nicht gespielt wird. Aber trotzdem – wie geht es Ihnen persönlich damit, sowohl mit der Kritik als auch mit der Entscheidung, kein Orchester am Abend zu haben?
FN: Also ich mag das Wort Playback schon mal nicht. Weil es auch nicht stimmt – die Musik kommt natürlich von einer CD, aber wenn man sich überlegt, was die Sänger da Abend für Abend leisten, dann klingt das für mich despektierlich, wenn man Playback sagt. Aber diese große Musik, dieses große Orchester, welches für den symphonischen Sound sorgt, das kann sich ein nicht, bzw. nur teil-subventioniertes Haus einfach nicht leisten. Es gibt immer wieder Produktionen, wo nicht mal alles live gesungen wird – solange die Menschen das nicht wissen oder oft nur erahnen, ist es ok. Wenn sie wissen, dass es kein Live-Orchester gibt, gibt es einen Aufschrei. Die andere Sache ist, dass es auch nicht in jedem Rahmen möglich ist, ein großes Orchester unterzubringen. Ich möchte aber, dass die Qualität der Musik an allen Orten und überall im Theater gleich hoch ist. Es gibt aber von all meinen Stücken auch Orchesterversionen in unterschiedlichen Größen und ich bin absolut der Letzte, der sich nicht darüber freut, Live-Musiker im Theater einzubinden. Da muss man einfach – leider – die Möglichkeiten sehen und hinter die Systeme blicken, wie Theater funktionieren, welche und ob es Subventionen gibt und was alles ermöglicht werden muss, damit überhaupt ein neues Stück auf die Bühne kommt. Als Künstler blutet mir da natürlich auch das Herz. Aber als jemand, der auch die anderen Seiten sieht, muss ich mich da auch mal zurücknehmen und dann das Beste daraus machen. Und musikalisch ist das, was das Orchester hier spielt, wirklich erstklassig. Über 50 Musiker haben die Musik eingespielt und das hört man auch.
Blimu: Dann noch eine letzte Frage – was wünschen Sie sich für das Theater von morgen?
FN: Mehr Mut. Nicht nur für Ur-Aufführung, sondern auch, dass die Stücke von deutschen Autoren und Komponisten wieder und wieder nachgespielt werden. Wenn man in die Opernwelt schaut, dann waren die wenigsten Opern direkt große Erfolge. Aber sie wurden wieder und wieder gespielt und sind so große Erfolge geworden, die heute nicht mehr wegzudenken sind. Diese Mentalität braucht es auch im Genre Musical. Man muss Stücken die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln und von Menschen gehört werden zu können. Es werden keine Hits geschrieben, Hits werden nur durch eine Wiederholung kreiert. Und das muss auch von denen verstanden werden, die hinter den Kulissen die Fäden in der Hand haben.
Vielen Dank für das sehr interessante Interview und besonders herzlichen Dank an das Festspielhaus Neuschwanstein und die Luisenburg-Festspiele Wunsiedel für das bereitgestellte Videomaterial.
Tickets für »Seele für Seele« sind noch im für die kommenden Wochen buchbar unter: SEELE FÜR SEELE | Luisenburg-Festspiele Wunsiedel
Fotogalerie von den Luisenburg-Festspielen Wunsiedel
