»Vermisst! Was geschah mit Agatha Christie?« Exklusive Songs und ein Interview mit Komponist Paul Graham Brown

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Foto: Petr Ustyanovič

Blickpunkt musical: Herr Brown, Sie haben schon für so viele große und kleine Theater geschrieben – hatten Großproduktionen ebenso wie kleine Stücke wie »King Kong«, die regelmäßig auf dem Spielplan verschiedener Theater stehen. Ursprünglich aus England gehören Sie inzwischen in Deutschland zu den Komponisten mit den meisten Uraufführungen und vor allem auch zu den Komponisten, die häufig nachgespielt werden.

Paul Graham Brown: Ja, da bin ich sehr dankbar – und ich darf mittlerweile glücklich sagen: Ich bin Deutscher! Im Zuge des Brexits war es mir wichtig, dass ich die Doppelstaatsbürgerschaft habe, weil einfach der Großteil meines Arbeitslebens hier stattfindet und ich seit über 25 Jahren völlig fest in Deutschland verwurzelt bin. Also bin ich eigentlich ein deutscher Komponist mit englischem Zungenschlag, der Gott sei Dank häufig im deutschsprachigen Raum nachgespielt wird. Das weiß ich sehr zu schätzen.

Blimu: »Vermisst! Was geschah mit Agatha Christie?« ist das Werk, über welches wir heute sprechen wollen. Das Stück hat als Ausgangsbasis das echte Verschwinden von Agatha Christie.

PGB: Ja, in der Tat ist die reale Situation Ausgangspunkt für unsere Geschichte. Da sie aber bis zu ihrem Tod darüber geschwiegen hat, ist ein Großteil unserer Handlung fiktiv. Aber alle Eckpunkte, dass sich ihr Mann Archie scheiden lassen wollte, dass sie eben verschwunden war etc., die sind alle tatsächlich so gewesen.

Blimu: Das Stück hatte im Kleinen Theater in Berlin Uraufführung, kam dann letztes Jahr an die Kammerspiele Seeb, feierte Sonntag Premiere in Zürich und kommt in der nächsten Saison an das TfN in Hildesheim. Dies ist nicht nur ein beachtlicher Erfolg, sondern ist zudem auch sehr spannend, weil alles drei völlig unterschiedliche Produktionen sind.

PGB: Allerdings. In Berlin hatten wir die Uraufführung, so etwas ist immer mit sehr viel Hektik, Stress und spontanen Entwicklungen verbunden. Hier war und bin ich immer voll eingebunden, immer, wenn wir es spielen, sitze ich selbst am Klavier. Dann kam die Zusammenarbeit mit Urs Blaser – da war ich eigentlich nur noch insofern involviert, als das ich da die Orchestrierung erstellt habe und musikalischer Leiter war. Aber es waren ganz andere Darsteller, ein neuer Regisseur. Und mit jeder Person, die an einem Stück arbeitet, wird es auch immer ein kleines bisschen erwachsener.

Blimu: Das heißt was? Wie hat sich das Stück verändert?

PGB: Das deutsche Theatersystem funktioniert leider so, dass man eigentlich immer nur auf eine Uraufführung hinarbeitet, aber nie eine Try-Out-Phase hat. Das heißt, dass man schreibt und das erste Mal, wo man ein Stück vollständig sieht als Autor oder Komponist, ist dann manchmal die erste Hauptprobe. Da kann man, speziell an Stadttheatern, aber gar nicht mehr viel ändern, egal, ob man da noch Dinge sieht, die dann einfach nicht gut funktionieren. Also eigentlich ist die Uraufführung dann immer ein Try-Out und man müsste hinterher sich nochmal hinsetzen und weiter an dem Stück arbeiten. Und das ist keine echte Kritik am deutschen System, weil es halt ist, wie es ist. Aber natürlich sind die Stücke, die über mehrere Jahre entwickelt werden und immer wieder ausprobiert werden, bevor sie dann tatsächlich Uraufführung feiern, die ausgefeilteren. Bei »Vermisst! Was geschah mit Agatha Christie?« war das jetzt fast so, wir hatten Zeit zwischen der Uraufführung und der Spielzeit in Seeb. Wobei sich an dem Stück selbst nur wenig verändert hat. Wir haben ein paar Takte musikalisch oder ein paar Sätze des Librettos verändert und ein paar Szenen umgebaut / angepasst. Aber eigentlich ist es gleichgeblieben. Was aber tatsächlich völlig anders ist und was erstaunlich viel ausmacht, sind die Kostüme. In Seeb und natürlich jetzt in Zürich werden zeitgenössische Kostüme genutzt mit vielen Kostümwechseln. Das macht erstaunlich viel aus, das ganze Stück ist viel opulenter inszeniert. Außerdem haben die Schauspieler einen anderen Schwerpunkt gesetzt – da geht es vor allem darum, dass eine Beziehung nie wirklich endet. Also selbst wenn man sie aktiv beendet, bleibt sie ja weiterhin im Fluss des eigenen Lebens. Das sind nur kleine Akzente, aber die machen viel aus, weil sie manchmal die Schwerpunkte verändern und den Zuschauer anders ansprechen.

Blimu: Was sich auch enorm verändert hat, ist die Musik. In Berlin gibt es nur Klavier, Sie haben es auch nur für Klavier geschrieben.

PGB: Ja, das war der Auftrag und das ganze Stück habe ich entsprechend entwickelt. In Seeb war klar, dass man mit Playback arbeiten muss, und das Theater wollte nun aber gern ein Playback mit Kammer-Orchester. Wir haben nicht nur Klavier / Keyboard, sondern zusätzlich Flöte / Klarinette / Bassklarinette / Alto-Sax, Geige, Cello, Bass.

Blimu: Was hat das mit der Musik gemacht?

PGB: Manche Lieder haben dadurch eine andere Tiefe gewonnen; die zusätzlichen Klangfarben können zusätzlich noch ganz andere Emotionen übermitteln. Das kommt vor allem bei den Liedern, die Agatha singt, stark zum Ausdruck. Ob man nur Klavier hat oder dann viele Streicher für eine Atmosphäre sorgen, das ist ein großer Unterschied. Gerade, wenn es um Liebe und Sehnsucht geht, macht Wärme in der Musik sehr viel aus. Je romantischer Musik dann klingen kann, desto besser.

Um den Unterschied zu verdeutlichen, haben wir hier einmal ein Fragment aus der Berliner Fassung – und im Anschluss natürlich dann den ganzen Song mit der Schweizer Cast.

Klavierfragment von der Ur-Fassung von Wer hat das Glück.?

PGB: Agatha lässt uns da an ihrem inneren Leben teilhaben, also zumindest etwas. Sie beschließt, dass sie wie eine Detektivin erarbeiten möchte, an welchem Punkt die Ehe mit ihrem Mann gescheitert ist. Dies setzt das ganze Setting für das Stück, am Schluss, mit der 11 o´Clock – Nummer, wird das dann wieder wie eine Klammer geschlossen.

Klavierfragment von der Ur-Fassung von Ein wahrer Krimi

Blimu: Die Sängerin von Agatha, Daniela Stoll, hat eine sehr klassische Stimmfarbe mit in die Inszenierung gebracht.

PGB: Oh ja, und ich finde das toll, es gibt der Rolle so etwas Erhabenes. Zumal sie es sehr gezielt einsetzt. Die Rolle hat einen Stimmumfang von fast zwei Oktaven und ich verneige mich vor Danielas Können!

Blimu: Als nächsten haben wir ›Orient Express‹, eine Hommage an Agatha Christies Buch »Mord im Orient Express«.

PGB: Der Autor, James Edward Lyons, und ich wussten von Beginn an, dass wir zwei große Nummern wollen, die an Christies Lebenswerk erinnern. In Deutschland am bekanntesten sind da »Mord im Orient-Express« und »Tod auf dem Nil«. Bei dem Lied Orient Express hat es wahnsinnig viel Spaß gemacht, mit den Instrumenten den ganzen Groove zu erzeugen: Wir haben Zuggeräusche, die mit Bürsten auf kleinen Trommeln entstehen oder auch die Streicher, die das plötzliche Bremsen des Zuges hörbar machen. Solche Effekte zu finden und zu nutzen, liebe ich sehr.

Klavierfragment von der Ur-Fassung von Orient Express

Blimu: Hier fällt stark auf, wie viel mehr Underscoring ein Orchester kann, fast filmisch ist hier alles unterlegt.

PGB: Oh ja, es ist ein Krimi und natürlich spielen wir da auch mit den bekannten Musikelementen, die bei den Zuschauern etwas auslösen. Da ist man einfach durch die Filmwelt trainiert, aber in Wahrheit machen Musicals das, ob Krimi oder nicht, auch immer. Die Stücke in einem Musical sind sehr ineinander verwoben, wenn es gut geschrieben ist. In unserem Stück ist das Leitmotiv ›Folge der Spur‹. Im Laufe der Handlung gehen alle Figuren mal auf Spurensuche, darum lag es auf der Hand, diese Momente musikalisch immer zu verbinden. Es ist aber auch eins der schwierigsten Stücke für die Darsteller, weil es, ähnlich wie beim Leitmotiv von ›Into the Woods‹, keine sich wiederholenden Textzeilen gibt. Zudem gibt es viele Tempowechsel.

Blimu: Ein weiterer Song, den wir veröffentlichen dürfen, ist ›Nie vergesse ich‹, gesungen von Rolf Sommer und Daniela Stoll.

PGB: Dieser Song resoniert beim Publikum immer. Es ist der erste Song in unserem Stück, mit dem das Publikum tatsächlich wirklich im klassischen Musical angekommen ist, er ist sehr eingängig und sehr romantisch. Da er mit John, dem Hotelmanager, startet, hatte ich die Möglichkeit, ihn anders zu schreiben. Alle anderen Figuren befinden sich in der sogenannten Upper-Middle-Class; er ist einfacher, daher ist seine Melodie auch einfacher. Es gibt viele Harmonien, rückblickend denke ich sogar, dass es fast wie ein englischer Folksong klingt, auch wenn das beim Schreiben gar nicht meine Intention war.
Das zentrale Thema des Musicals ist das Erinnern und das Vergessen (wollen). Bei diesem Lied gibt es ein Gegenüberstellen der Figuren John und Agatha, er will vergessen, sie will sich erinnern. Ich liebe die Bassklarinette in dieser Orchestrierung und dass es ansonsten so klein orchestriert ist – es gibt sonst nur eine Solovioline. Das vermittelt musikalisch zusätzlich das Gefühl von Einsamkeit.

Blimu: Ein weiteres Lied, was wir veröffentlich dürfen, ist ›Was man nicht lassen kann‹ mit Marisa Jüni und Rolf Sommer.

PGB: Ich liebe diesen Song, weil er den Klang des Orchesters so verändert. Es ist eigentlich ein kleines Hotelorchester, hier müssen sie dann auf einmal kantig und mit viel Antrieb spielen, fast schon rockig. Nancy fühlt sich von Agatha bedroht und ist auf der Suche nach Archies Pistole, während John im Hotel Zeitungsartikel über Agatha ausschneidet, fast obsessiv ist. In der Szene ist auch meiner absoluten Lieblingssätze: Nancy rechtfertigt die Entnahme der Pistole mit den Worten: »Es ist keine Waffe, bis man feuert!« Das ist großartig formuliert! Aber ich bin auch wirklich in Summe sehr stolz auf diesen Bühnenmoment, denn er vereint einfach so viele Ebenen und er hat so viel Drive. Und er lässt in den Zuschauerköpfen Fragen entstehen. Und gerade in einem Krimimusical ist das natürlich gewollt. Idealerweise sollen die Zuschauer erst am Schluss des Stückes alle Fäden, die gesponnen wurden, miteinander verbinden. Und dieser Song spinnt genau diese Fäden.

Klavierfragment von der Ur-Fassung von Was man nicht lassen kann

Blimu: Als letzten ausgewählten Song haben wir Archies (Sven Geiger) ›Lass es sein‹. In dem Lied geht Archie schonungslos offen mit Agatha um, völlig aggressionslos, einfach nur sehr klar.

PGB: Als ich den Song geschrieben habe, war er wie eine Ballade, aber das hat mich nicht glücklich gemacht. Mir fehlte ganz klar die Spannung in der Musik, also habe ich es noch einmal umgeschrieben. Eine Beziehung ist nie Schwarz oder Weiß, genauso wie eine Trennung nie Schwarz oder Weiß ist. Es gibt immer eine Menge Zwischentöne, auch wenn er in dem Moment die klare Trennung vorwärtstreiben möchte, weiß er ja, dass sie trotzdem Teil seines Lebens bleibt. Dieses Lied zu orchestrieren hat mir sehr viel Spaß gemacht. Wenn ich das am Klavier spiele und nur das Klavier habe, habe ich nur zwei Hände, die alles rüberbringen müssen. Mit dem Orchester konnte ich Sostenuto-Linien unterlegen. Hier ist es auch spannend, noch einmal den Unterschied zu zeigen zwischen Klavier und Orchester.

Klavierfragment von der Ur-Fassung von Lass es sein

Blimu: Es war sehr spannend, in die Welt hinter der Entstehung der Aufnahme eintauchen zu können – vielen Dank dafür, dass wir die Lieder exklusiv zuerst veröffentlichen dürfen!
Für alle Leser und Hörer, die das Stück nun sehen wollen: In genau dieser Besetzung können Sie dies vom 25. Mai bis 22. Juni im Bernhard Theater in Zürich:

https://www.bernhard-theater.ch/