Ein Stück (Musical)-Geschichte: »Die weiße Rose« feiert im Festspielhaus Neuschwanstein Uraufführung

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Immer wieder denkt man, dass etwas zum ersten Mal passiert – und stellt dann mit einem Blick in die Geschichtsbücher fest, dass diese Annahme falsch war. So, wie schon vor tausenden von Jahren die Erwachsenen der Meinung waren, dass die Jugend von »heute« respekt- und antriebslos ist, führen seit tausenden von Jahren Wirtschafts- und Umweltkatastrophen zu Umwälzungen von Reichtum und Armut und letztendlich daraus entstehende Unzufriedenheiten zu Hass und Krieg. Der Mensch als solcher scheint, schon so lange, wie er lebt, nicht fähig dazu, aus der Geschichte zu lernen – vielleicht aus Ignoranz, vielleicht aus Arroganz, vielleicht aus Verdrängung, vielleicht auch aus Egoismus. Ein immer größer werdendes Ausmaß an Hass, das durch die interaktions-optimierten Algorithmen auch sozialer Medien befeuert wird, zeugt gerade wieder davon, dass ein weiteres Mal wohl keine Lernfähigkeit stattgefunden hat und blind Menschen und Dinge verteufelt werden. Etwas, was denjenigen, die sich dann doch mit Geschichtsbüchern und Augenzeugenberichten auseinandergesetzt haben, erschreckend bekannt vorkommt.

Was dagegen relativ neu ist, ist der Hass gegen ein Musical, noch bevor es aufgeführt wird. »Daraus darf man kein Musical machen!« ist ganz sicher der harmloseste Kommentar, den die Macher und das Theater hingeschmettert bekommen haben. Interessanterweise durfte man über ähnliche Themen bereits Oscar-prämierte Filme drehen. Auch Opern oder Tanztheaterstücke, die sich dieser Thematik widmen, waren kein Problem. Aber ein Musical? Ist es tatsächlich so, dass die Menschen blind sind, was die Thematiken auch größter Musicalerfolge betrifft? »Les Misérables« ist nicht als Gute-Laune-Stück bekannt und füllt zurecht seit Jahrzehnten die Theater. »Dear Evan Hansen« und »Next to Normal« lassen den Zuschauer so manche Träne verdrücken. Und was ist mit »Cabaret« oder »Sweeney Todd«, gern auch »Anatevka« – Stücken, die landauf und landab an Stadt- und Staatstheatern gespielt werden und ganz offensichtlich immer wieder ihr Publikum finden? Also – warum ist es überhaupt einen Aufruhr wert, wenn sich Vera Bolten (Buch) und Alex Melcher (Musik) mit dem Festspielhaus Füssen mutig und gegen den Mainstream zusammentun und ein Stück über »Die weiße Rose« auf die Bühne bringen? Ist es vielleicht die Angst der Menschen, dass etwas gezeigt werden könnte, was zum Nachdenken anregt – und das will man nicht? Denn wer denkt, kann Dinge verändern. Kann Fragen stellen, auf die andere vielleicht keine Antwort haben wollen – oder als Mitläufer eventuell tatsächlich nicht haben?

Zum Nachdenken regt dieses Stück auf jeden Fall an. Es ist ein Stück Geschichte, das hier, mit sehr vielen Originalzitaten unterlegt, auf die Bühne kommt. Diese Zitate zeigen verschiedene Dinge: Die Teenager / jungen Erwachsenen von damals sind im Grunde Teenager / junge Erwachsene von heute. Da geht es um Liebe, um Freundschaft, um das Finden der eigenen Identität, aber auch um das Machen von Fehlern und das Lernen, dass nur Wegschauen nichts verändern wird. Diese Zitate zeigen aber auch, wie sehr manches, was vor rund 90 Jahren passierte, auch heute wieder passieren könnte. Und sie zeigen, wie ernsthaft sich die beiden Macher mit der Thematik auseinandergesetzt haben und mit wie viel Respekt sie ihr begegnet sind.

Bolten hat ein Stück geschrieben, das Momente aus den vielen Büchern, die sie gelesen hat, zu einer dichten, menschlichen und immer vorwärtstreibenden Geschichte verbindet. Es ist die Geschichte der »Weißen Rose«, es ist nicht die Geschichte einer einzelnen Hauptfigur. Das Stück beginnt bei der Familie Scholl am Esstisch, mit begeisterten Kindern, die in der Hitlerjugend aufgehen. Ihr Vater sieht, dass seine Kinder zu selbstständig denkenden Menschen werden müssen – aber diese Hingabe zum Führer hinzunehmen, fällt ihm sehr schwer. Letztendlich aber zahlt sich seine Geduld aus: Hans und Sophie sehen nach und nach selbst die Ungerechtigkeiten, die von Hitler ausgehen, und begreifen immer weniger, wieso so etwas vom Volk hingenommen werden kann. Sowohl die Mädchen als auch die Jungs müssen ihren Kriegsdienst leisten. Sie erleben, wie Vater Scholl verhaftet wird, weil er es wagt, eine eigene Meinung zu haben (und vor allem zu äußern), und sie erleben, wie an der Uni immer weniger Denken gelehrt wird, bis hin zur Verdrängung weiblicher Studenten, schließlich sollen diese nur Kinder gebären, nicht aber ihren Verstand nutzen. Alexander Schmorell, Hans‘ bester Freund, und Christoph Probst sind Feuer und Flamme, als sich in der Freundschaftsgruppe Widerstand formiert und »Die weiße Rose« gegründet wird. Mit viel List besorgen sie sich alles, was es braucht, um Flugblätter, die zum Nachdenken anregen sollen, zu verteilen. Und mit viel Mut bringen sie diese unter die Menschen. Diesen Mut bezahlen sie mit ihrem Leben. Auch dies wird sehr stilvoll sowie ergreifend dargestellt. Die Engländer aber verteilten nach dem Tod der Gruppe, gemeinsam mit Bomben, noch das letzte, sechste Flugblatt in Deutschland. Sie taten dies unter anderem mit den Worten, dass sie den Krieg ohnehin gewinnen würden, aber sie nicht einsähen, »warum die Vernünftigen und Anständigen in Deutschland nicht zu Worte kommen sollten.«

Mit dieser Information endet ein Stück, was in sich unglaublich stimmig ist. Bolten und Melcher wollen nicht beschönigen, und warum sollten sie auch? Nur auf diese Weise können sie Menschen wirklich erreichen – ihnen zeigen, warum was eigentlich wie gekommen ist. Und genau das erweist sich als sehr kluger Schachzug, ebenso wie die Vertonung originaler Worte immer wieder zu bemerkenswerten Texten führt. Die damalige Jugend war offensichtlich voller Wortschmiede, die mit Emotionalität ihre Situationen beschrieben. Ganz besonders rührend sind die Liebesbriefe, die sich Sophie Scholl und Fritz Hartnagel in der langen Zeit, in der er als Soldat in fremden Ländern war, schrieben. Dieses Duett, welches als Reprise immer wieder aufgegriffen wird, ist musikalisch, textlich und darstellerisch ein absolutes Highlight der Musical-Geschichte. Überhaupt schafft es Melcher, musikalisch fast unauffällig unterstreichend die Geschichte voranzutreiben, was insofern ein bemerkenswertes Kompliment sein soll, da das Stück sehr wohl prall gefüllt ist mit kräftigem Rock sowie Balladen, was auch immer wieder zu starkem Szenenapplaus führt – ganz klassische Musicalnummern. Eigentlich. Aber hier sind diese so geschickt gestrickt und verwoben, dass sie sich immer fließend mit der Geschichte entwickeln und sich trotz der Stärke nie in den Vordergrund stellen. Genauso wie die sehr weise eingesetzte Choreografie von Bart De Clercq oder auch das Bühnenbild mitsamt der Idee, Sophie, die eine begabte Zeichnerin war, stets die Szenerie zeichnen zu lassen (sehr ausdrucksstarke Illustrationen von Jens Hahn). Es mag auf den ersten Blick so abgestimmt in Schwarz / Weiß schlicht wirken, hat aber alles miteinander eine so außergewöhnliche Ausdrucksstärke und Ästhetik, wie man sie selten auf einer (deutschen) Bühne findet. Und obwohl jedes einzelne Gewerk für sich beeindruckt, ist alles nur im Sinn der Geschichte. Eine mehr als bewundernswerte Leistung des gesamten Teams.

Dass das Stück so glänzt und es minutenlange Standing Ovations bei der Premiere gab, ist nicht zuletzt den Darstellern zu verdanken. Gesanglich und schauspielerisch bezaubernd steht Friederike Zeidler als Sophie Scholl auf der Bühne. Als ihr Bruder Hans steht ihr Jonathan Guth in nichts nach, aber auch Adam Demetz (Alexander Schmorell), Julius Störmer (Willi Graf), Maximilian Aschenbrenner (Christoph Probst), Oliver Natterer (Fritz Hartnagel), Juliette Lapouthe (Inge Scholl) und Tamara Köhn (Traute Lafrenz) zeigen auf, dass die junge Generation mit einer schauspielerischen Natürlichkeit die Bühnen und das Publikum für sich einnimmt. Mühelos scheinen die Choreografien, weit weg von gelernten Texten werden die starken Schauspielmomente lebendig. Unterstützt werden sie von Martin Planz als Vater, Claudia Dilay Hauf als Mutter und Daniel Berger, der insbesondere als Gestapo der Szenerie mit seiner gewaltigen Präsenz immer wieder Härte und Schrecken einflößt. Das gesamte Ensemble war über weite Strecken auf der Bühne präsent, die Schauspieler hielten auch in den Momenten, in denen sie eigentlich fast nur Zuschauer des Bühnengeschehens waren, die Energie oben und kreierten so eine besondere Stimmung. Das, was da gerade passiert, betrifft alle. Egal ob mittel- oder unmittelbar.

Musikalisch hat Melcher, in Zusammenarbeit mit Marc Tritschler (Musical Supervision), eine achtköpfige Band unter der musikalischen Leitung von Stefan Wurz zusammengestellt. Diese ist geschickt in die Bühne integriert, der überaus rockige Sound wird durch Cello und Violine komplettiert und dass die Band mal sichtbar und mal im Hintergrund war, passte sehr gut zu dem stimmigen Gesamtkonzept.

Vom Förderverein des Theaters unterstützt ist eine Ausstellung begleitend zum Musical entstanden, die vor/nach dem Stück noch weitere Einblicke in die Entstehung und Geschichte der Weißen Rose gibt. Außerdem bietet das Theater spezielle Aufführungen für Schulen an, etwas, was hoffentlich immer wieder – dort wie anderswo – aufgenommen wird, damit unter den jungen Menschen möglichst viele die Möglichkeit haben, Geschichte so zu erleben. Und weil man als Mensch, auch über das Schulleben hinaus, nie aufhören sollte zu lernen, bleibt zu hoffen, dass sich dieses Stück einreiht in die oben genannten Stücke und zum Klassiker an Stadt- und Staatstheatern wird. Schließlich sollten wir uns alle bemühen, Fehler der Generationen vor uns nicht noch einmal zu machen, unseren Verstand einzusetzen und zu versuchen, Hass jeglicher Art durch Logik, Verstand, aber auch Liebe im Keim ersticken zu lassen. Um mit den Worten Sophies zu sprechen: »Es braucht einen harten Geist und ein weiches Herz.« Damals wie heute.

Weitere Informationen und Tickets: 

Die weiße Rose – Festspielhaus Neuschwanstein

Deutsches Theater München 

 

Dies ist eine gekürzte Version der Rezension, die in unserer kommenden Ausgabe 04-2025 / Nr. 136 erscheinen wird.