2000 wurde der Film «Billy Elliot» vom britischen Regisseur Stephen Daldry in England gedreht. Die Geschichte spielt während des britischen Bergarbeiterstreiks 1984/1985 und dreht sich um den jungen Billy Elliot, der in einer Bergarbeiterstadt im Nordosten Englands aufwächst und gegen alle Erwartungen seiner Familie und Gesellschaft seinen Traum vom Balletttanz verfolgt. Der Film wurde am Filmfestival von Cannes im Mai 2000 uraufgeführt und eroberte die Herzen des Publikums in England und danach auf der ganzen Welt im Sturm. Über 109 Millionen US-Dollar spielte das bewegende Drama um den jungen Billy weltweit ein. Elton John, einer der Zuschauer, sprach Daldry sofort an und schlug ihm vor, daraus ein Musical zu machen. Er komponierte 16 Songs für die Bühnenversion, das Buch und die Texte schrieb Lee Hall, der ebenso Originalautor des Films war. Das Musical feierte am 12. Mai 2005 Premiere am Londoner West End.
4.600 Vorstellung hat das Musical »Billy Elliot« alleine dort gespielt, unzählige Nominierungen und Preise wurden gewonnen: Neun Nominierungen und davon vier Laurence Olivier Awards gingen in dem Premierenjahr an das Stück, 2013 folgte dann mit dem Publikums-Award ein weiterer
Auf ganze 1.312 Vorstellung kam Billy dann am Broadway, auch dort wurde das Stück von der Presse gefeiert und mit vielen Auszeichnungen bedacht – alleine bei den Tony Awards gab es 15 Nominierungen und zehn Gewinne, bei den Drama Desk Awards gab es zehn Awards von zehn Nominierungen.
Bei all den Zahlen, die hier nach Superlativen klingen, darf man nicht vergessen, dass das Stück selbst, der Kampf für ein selbstbestimmtes Leben frei von den Mustern, die man aus seinem Elternhaus mitbekommt, zu leben und das Zusammenhalt so wichtig ist, ausschlaggebend sind für den großen Erfolg. Auch wenn die Kämpfe der Bergarbeiter vielleicht mittlerweile abgeklungen sind, sind die eigentlichen Aussagen, die hier auf der Bühne getroffen werden, aktueller denn je.
Das Stück, nun erstmalig in deutscher Übersetzung von Roman Riklin und Eric Hättenschwiler, wird am 01. November in der Maag Halle Zürich Premiere feiern. Zu der prominenten Besetzung gehören unter anderem auch Pasquale Aleardi als Billys Vater sowie Isabelle Flachsmann als Mrs Wilkinson – mit beiden konnten wir vorab ein Interview zu Ihren Rollen führen.
Pasquale Aleardi über seine Rolle als Billys Vater
blickpunkt musical: Lieber Herr Aleardi, wie war der Moment, in dem Sie von der DSE erfahren haben und stand direkt fest, dass Sie sich als Vater bewerben möchten?
Pasquale Aleardi: Ich wurde von den Maag-Produzenten direkt angefragt, ob ich Interesse hätte, den Vater von Billy zu spielen, und war sofort hellhörig, weil ich ein großer Fan des Films bin. Er gehört definitiv zur Top-Ten-Liste meiner Lieblingsfilme. Die Vielschichtigkeit und Entwicklung dieses Charakters haben mich sofort gereizt, und es war klar, dass ich diese Gelegenheit wahrnehmen musste. Es war aber für mich selbst jedoch auch sehr wichtig, zum Vorsprechen zu gehen, um zu sehen, was ich zur Rolle beitragen kann. Als ich dann erfuhr, dass ich überzeugt habe, war ich sehr glücklich darüber.
blimu: Wie entdecken Sie gerade in der Phase der Proben den Vater? Die Welt, die diesen prägte, unterscheidet sich ja vermutlich sehr von der Welt, in der Sie aufgewachsen sind bzw. jetzt leben. Gibt es dennoch Charaktereigenschaften, mit denen Sie sich verbinden können? Oder wo Sie ihn einfach wahnsinnig gut verstehen können?
PA: Ich habe selbst zwei kleine Söhne und kann daher sehr gut nachvollziehen, dass ein Vater nur das Beste für sein Kind möchte, auch wenn die Welt des Vaters eine diametral andere ist als die der Ballett-Welt, die Billy für sich entdecken möchte. Das Reizvolle an meinem Beruf ist aber genau diese Reise, die der Vater macht, um Billys Welt so weit zu verstehen, dass er ihn letzten Endes darin unterstützt, auch wenn er überhaupt nichts davon versteht. Grundsätzlich sind seine Liebe und der Schutzinstinkt für seine Söhne der Schlüssel, um die Rolle des Vaters nachzuvollziehen und spielen zu können.
blimu: Für mich macht Billys Vater fast die größte Entwicklung in diesem Stück durch. Wie empfinden Sie die Reise des Vaters?
PA: Die Transformation des Vaters im Stück ist wirklich bemerkenswert. Er durchläuft eine emotionale Reise von absolutem Widerstand zu Akzeptanz und Unterstützung. Diese Entwicklung zeigt die Kraft der Liebe und des Verständnisses. Es ist sehr berührend und eine Freude, diese Reise auf der Bühne zu erleben.
blimu: Sie sind selbst Vater. Gäbe es einen Berufswunsch Ihrer Kinder, den zu unterstützen Ihnen persönlich schwerfallen würde?
PA: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich hoffe jedenfalls, sie entscheiden sich für etwas, das niemand anderem schadet. Damit hätte ich ein großes Problem (lacht). Nein, Spaß beiseite. Als Vater wünsche ich mir nur, dass meine Kinder glücklich werden, wenn Sie groß sind. Ich würde versuchen, sie darin zu unterstützten, etwas zu finden, das sie wirklich gerne machen wollen, etwas, das sie erfüllt. Das ist das Wichtigste.
blimu: Einer der stärksten Momente (für mich) im Stück ist der Moment, in dem sich Jacky Elliot für seinen einen Sohn, aber gegen den anderen und seine ganzen Freunde stellt. Am West End war dieser Moment wunderbar ausgearbeitet, am Broadway leider gekürzt. Wie wird er hier in Zürich zu sehen sein und wie erleben Sie selbst diese Szene, bzw. was ist für Sie einer der wichtigsten Schlüsselmomente in dem Stück?
PA: Ja das werde ich hier natürlich nicht verraten, das muss man sich dann schon selber ansehen (lacht). Ich kann nur sagen, wir arbeiten intensiv daran, diese Szene kraftvoll und berührend zu gestalten. Der Konflikt, den ich als Jacky Elliot, als Vater durchlebe, ist wirklich intensiv. Für mich gehört dieser Moment zu den wichtigsten: Wenn ich als Vater erkenne, dass es nicht nur um die eigene Perspektive geht, sondern um das Glück und die Erfüllung von Billy, der im Gegensatz zu uns noch eine Chance auf ein anderes, erfüllteres Leben hat.
blimu: Sie haben Ihre Jugend mal als sehr »laut« beschrieben mit viel Fernsehen. Gab es von Ihrer Familie aus einen Bezug zur darstellenden Kunst oder sind ihre Eltern »aus allen Wolken gefallen«, als Sie ihnen Ihren Berufswunsch mitgeteilt haben?
PA: In der Tat, sie haben sich was anderes für mich vorgestellt. Arzt oder Rechtsanwalt vielleicht, aber sicher nicht Schauspieler. Um Gottes Willen. Sie waren ganz schön schockiert zu Beginn und konnten nicht viel damit anfangen, weil sie überhaupt keinen Bezug zur Kunst hatten. Aber der Erfolg, den ich damit hatte, konnte sie Gott sei Dank beruhigen. Sie waren dann auch sehr stolz und konnten sich mit mir freuen.
blimu: Gab es für Sie jemanden, der Sie auf Ihrem – dann sehr erfolgreichen ‒ Weg immer bedingungslos unterstützt hat?
PA: Ich hatte das Glück, Menschen in meinem Leben zu haben, die mich stets unterstützt haben. Gerade in meinen Anfängen gab es sowohl am Theater als auch beim Film Regiesseur:Innen & Caster:Innen, die zu Mentor:Innen wurden und mich gefordert und gefördert haben. Dann natürlich besonders meine Freunde und die Familie. Diese Unterstützung gibt mir immer noch die Kraft, meinen Weg weiterzugehen. Ich bin unendlich dankbar dafür.
blimu: Jacky Elliot muss mehrfach in dem Stück erkennen, was Toleranz bedeutet und wie wichtig der Blick über den eigenen Tellerrand ist. Immer wieder gibt es diese kleinen und großen Momente der Erkenntnis. Was ist für Sie wichtig, was sollen die Menschen nach der Show mit nach Hause und in ihr Herz nehmen?
PA: Wenn wir es schaffen, dass auch nur eine einzige Person nach dem Stück den Mut fasst, den eigenen Träumen nachzugehen, dann wäre das fantastisch. »Billy Elliot« lehrt uns die Bedeutung von Toleranz und Offenheit. Es zeigt, wie wichtig es ist, Träume zu verfolgen und über den eigenen Horizont hinauszuschauen. Ich hoffe, dass die Zuschauer mit dem Gefühl im Herzen nach Hause gehen, dass sie ihre eigenen und die Träume anderer mit aller Kraft unterstützen sollten.
blimu: Sie sind gerade mitten in den Proben, gibt es noch Momente, die Sie herausfordern?
PA: Jede Probe bringt aus der Rolle heraus neue Herausforderungen, sei es emotional oder technisch. Der Probenprozess geht eigentlich nie vorbei. Ich wünschte, wir hätten noch viel mehr Zeit. Aber das wünsche ich mir eigentlich immer (lacht). Diese Herausforderungen sind jedoch das, was die Arbeit so spannend macht, und es hört bei jeder Probe und Vorstellung nie auf, spannend für mich zu sein, weil es immer was Neues zu entdecken gibt.
blimu: Billy, ebenso wie Michael, überstrahlen mit ihren Tanztalenten alles. Wie ist für Sie die Zusammenarbeit mit den jungen TänzerInnen?
PA: Es ist eine wahre Freude. Die Energie und das Talent der jungen Tänzer sind unglaublich inspirierend. Sie bringen eine Frische und Leidenschaft auf die Bühne, die ansteckend ist und die gesamte Produktion auf und hinter der Bühne belebt.
blimu: In England gab es durchaus laute Kritiken, dass die Problematik rund um die Schließungen der Bergwerke und vor allem die Charakteristiken der Minenarbeiter viel zu oberflächlich und falsch dargestellt worden wären, auch wie Maggie Thatcher im Stück vorkommt, war Teil der Kritik. Dies alles bildet den Hintergrund für das Stück, einen Hintergrund, den wir als deutschsprachige Europäer wenig bis gar nicht kennen. Warum ist es in Ihren Augen trotzdem unerlässlich, sich unbedingt das Stück in Zürich anzuschauen?
PA: Trotz der Kritik bleibt »Billy Elliot« ein kraftvolles Stück über die Verwirklichung von Träumen gegen alle Widerstände. Die Thematiken sind universell, das lässt niemanden kalt. Auch ohne detailliertes Wissen um die historischen Hintergründe sollte es jeden Menschen ansprechen, der einen Traum verwirklichen möchte, egal wie groß oder klein er sein mag. Wenn es uns gelingt, diese Essenz des Stücks zum Ausdruck zu bringen, wird es jeden Zuschauer inspirieren und bereichern. Das sollte man nicht verpassen.
Isabelle Flachsmann über Ihre Interpretation von Billys Tanzlehrerin
blickpunkt musical: Liebe Frau Flachsmann, in der deutschsprachigen Erstaufführung von »Billy Elliot« spielen Sie Mrs Wilkinson – hatten Sie vorab schon Berührungspunkte mit dem Stück, bzw. was war für Sie der ausschlaggebende Punkt, an der Audition teilzunehmen?
Isabelle Flachsmann: Ich liebe das Stück, weil es Herz und Message hat. »Billy Elliot« bietet nicht nur spektakuläre Tanzszenen, sondern auch Menschen aus Fleisch und Blut mit vielen Schwächen, die alle für eine bessere Zukunft kämpfen. Außerdem wusste ich, dass Mitch Sebastian Regie führt und Maag Moments die Produktion macht, und ich wollte unbedingt wieder mit ihnen zusammenarbeiten.
blimu: Wie würden Sie die Rolle der Mrs Wilkinson charakterisieren?
IF: Die Ballettlehrerin Mrs Wilkinson ist ein schillernder, aber gefallener Paradiesvogel. Mitten in einer rauen Männerwelt musste sie lernen, sich durchzuboxen. Sie hat einen bissigen, unzimperlichen Humor, aber ist im Inneren voller unterdrückter Liebe und ungelebter Gelegenheiten. Als Billy erscheint, blüht sie auf. Sie sieht sein Talent und schafft es, dass Billy gegen alle Widerstände seinen Traum verwirklichen kann. Eine tolle Rolle.
blimu: Sie ist eine der wenigen relevanten Frauen in einer Geschichte, die sehr vom Schicksal hartarbeitender Männer geprägt ist, mit all den (z. T.) Vorurteilen, die man diesen Menschen zu dem damaligen Zeitpunkt zugeschrieben hat. Auch dies formt den zunächst harten Charakter von Mrs Wilkinson, bis dann Billy auch in ihr etwas bewegt und sie mit ganzem Herzblut für ihn kämpft. Hatten Sie jemanden in Ihrem Leben, der für Sie ähnlich beeinflussend war?
IF: Ich hatte viele tolle Menschen, die mich auf meinem Weg begleitet und gefördert haben. Darum möchte ich diese Performance meinen unzähligen wunderbaren Tanzlehrerinnen und -lehrern widmen. Allen voran Helen von Arb, Doris Catana, Martin Schläpfer, Fumio Inagaki, Heidi Michel, Christine Fausch, Patty Wilkox, Matt Stone, Kerry Casserly, Billy Johnstone, Savion Glover, Gregory Hines, Alan Onickel, Emilietta Ettlin, Desmond Richardson, Barbara Duffy, Randy Skinner, Ann Reinking und meinem Gyrotonic Lehrer Gary Marshall, der meinen Körper immer wieder ins Lot bringt nach unzähligen Schandtaten.
blimu: Ihre Karriere ist einzigartig, Sie können auf hervorragende Ausbildungen zurückgreifen und neben den großen Erfolgen im deutschsprachigen Raum auch auf Erfahrungen am Broadway. Was hat Sie persönlich am meisten geprägt?
IF: Alles. Die großen und die kleinen Erfahrungen. Sie sind wie eine wunderschöne Blume mit verschieden Knospen. Ich möchte immer weiterwachsen und mit meinen Erfahrungen aus den verschiedenen Welten Neues kreieren. Mittlerweile schreibe ich auch viel und inszeniere oder produziere.
blimu: Billy berichtet darüber, was Tanzen für ihn bedeutet und wie sehr es ihn als unsichtbaren Motor antreibt und ausfüllt. Haben Sie diesen alles ausfüllenden Drang damals selbst so stark gespürt, wie er hier vom Autorenteam in Worte gefasst wurde?
IF: Ja, ich habe als Kind Gene-Kelly-Filme gesehen und wollte mich auch so fühlen. Er schien so leichtfüßig und glücklich. Danach habe ich einen Stepptanzkurs gemacht.
blimu: Als Mrs Wilkinson haben Sie, mit Billy zusammen, eine der rührendsten Szenen überhaupt – Sie dürfen ihm in der Erinnerung an seine Mutter nah kommen. Wie geht es Ihnen als Mutter in diesem Moment?
IF: Ich muss mich zusammennehmen. Mrs Wilkinson ist keine Heulsuse. Ich schon.
blimu: Sie sind nicht nur als Darstellerin, sondern tatsächlich auch als Stepptänzerin über alle Ländergrenzen bekannt. Wie viel Freiraum haben Sie jetzt in dieser Inszenierung, um davon auch etwas zeigen zu können?
IF: Leider steppe ich nur relativ kurz, dafür aber mit Springseil. Haha. Ein Horror. Ich musste lange üben und die Sache macht mich auch jetzt noch nervös.
blimu: Wenn Sie heute jemanden Junges vor sich haben, der/die unbedingt in das Showbusiness möchte, welchen Rat würden Sie ihm oder ihr geben?
IF: Ich habe keinen Rat. Mein Weg muss nicht Dein Weg sein. Aber was ich sagen kann: Wenn Du es wirklich willst, mach einfach einen Schritt nach dem andern. Schau, was Dir gefällt und wer Dir gefällt und wo die ihre Ausbildung gemacht haben, vielleicht ist das ja auch etwas für Dich? Chancen werden sich ergeben! Wenn Du weißt, dass Du es in Dir hast, wird Dich nichts stoppen können. Es ist wie Liebe, man kann es nicht erklären, man weiß es einfach, dass man für dieses Leben bestimmt ist.
blimu: Apropos junge Talente – Sie proben gerade mit einem Team aus jungen TänzerInnen – wie ist die Zusammenarbeit mit ihnen?
IF: Sie sind toll, quicklebendig und voller Energie. Sie sind so süß und sehr professionell!
blimu: Wie laufen die Proben denn insgesamt für Sie? Wie herausfordernd ist die Arbeit?
IF: Proben mit so vielen Beteiligten sind eine Herausforderung. Wir haben sehr lange Arbeitstage. Aber es macht einen Riesenspaß zu sehen, wie alles zusammenkommt.
blimu: Gibt es eine Szene / einen Moment, der Ihnen (zumindest im Moment noch) besonders schwerfällt?
IF: Es sind im Augenblick eher Nuancen, wie Positionen und Cues, die genau zum richtigen musikalischen Zeitpunkt mit gewissen Requisitenhandgriffen stimmen müssen, damit alles nahtlos fließt.
blimu: Wenn Sie kurz zusammenfassen müssten, warum man den Weg nach Zürich unbedingt antreten sollte, um dort »Billy Elliot« zu sehen, dann wäre das…
IF: Ein wunderbar talentiertes Ensemble, eine spektakuläre Show und eine berührende inspirierende Story. Allen voran drei unglaubliche Billy-Darsteller. Ich bin jeden Tag geflasht von diesen Kids!
Tickets und weitere Infos:
Eine ausführliche Kritik sowie ein Interview mit Regisseur Mitch Sebastian finden Sie in der kommenden Ausgabe Nr. 132 – 06-2024