Jeder Mensch ist anders – »Billy Elliot« feiert in Zürich Premiere

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Lucas Baier, Moritz Fischli und Pasquale Aleardi
Foto: René Tanner

Es war keine Frage, ob das Stück selbst funktioniert. Basierend auf dem Film aus dem Jahre 2000 entstand ein Musical mit der Musik von Elton John, welches 2005 Uraufführung in London feierte und reihenweise dort, wie auch Jahre später am Broadway, Theaterpreise einheimste.

Nein, die große Frage, die sich vor dem 01. November stellte, war, ob »Billy Elliot« auch auf Deutsch und in einer Gegend funktionieren würde, die mit der Geschichte Englands gar nichts zu tun hat. Die klare Antwort: Ja. Und das sogar ganz hervorragend. Die Übersetzer Roman Riklin (Liedtexte) und Eric Hättenschwiler (Dialoge) haben ihre Sache ausgesprochen gut gemacht, sie sind immer sehr nah an dem Originalcharme des Autors Lee Hall geblieben, sie haben – fast möchte man zu dieser Entscheidung gratulieren – auf zu viel Dialekt verzichtet und sind, statt sich irgendeines Sprachbildes zu bedienen, der für bildungsferne Bürger stehtt, mit nur wenig ausgekommen, um zu zeigen, dass die Schicht, in der Billy mit seiner Familie lebt, keine wohlhabende ist. Einzig und allein – und dies ist eine rein persönliche Meinung – ist die Übersetzung des Wortes ›Electricity‹ mit ›Elektrisch‹ nicht gut gelungen. Während Electricity etwas ganz Aktives ist, was weit ausstrahlt und alles einnimmt, ist elektrisch lediglich ein Adjektiv. Aber, wie erwähnt, ist dies vermutlich ein sehr subjektives Empfinden und soll die ansonsten exzellente Arbeit der Beiden nicht schmälern.

Foto: René Tanner

Das Musical spielt inmitten des britischen Bergarbeiterstreiks 1984/1985, und während sein Vater Jacky sowie sein Bruder Tony von dem Streik betroffen sind, entdeckt der junge Billy aus Zufall die Anziehungskraft des Balletts für ihn. Entgegen dem Willen seines Vaters wird er von Mrs Wilkinson unterrichtet, die ihn für eine Audition an der Royal Ballet School anmeldet. Doch an dem Morgen, an dem sie ihn dort hinfahren will, eskaliert die Situation zwischen Billys Familie, Billy und ihr. Erst einige Wochen später, als der Vater Billy beim Tanzen erstmalig sieht, beginnt er zu verstehen, dass hier vielleicht tatsächlich die Chance auf eine Zukunft für den Jungen liegt.

Regisseur Mitch Sebastian hat die Geschichte einen Hauch mehr in die heutigen Sehgewohnheiten geholt, manche Stellen wurden deutlich gestrafft, dafür ist es ihm aber im Gegenzug auch gelungen, an anderen Stellen durch entsprechendes Hinzufügen von Sätzen den Schweizern, bzw. dem deutschsprachigen Publikum, die Geschichte um die sozialen Verwerfungen rund um den Niedergang der britischen Kohlebergbaus und des brutalen Kampfes von Margaret Thatcher gegen die Gewerkschaften nahezubringen.

Moritz Fischli und Justin Périer
Foto: René Tanner

Die Choreografien wurden überwiegend aus der Original-Inszenierung von Peter Darling übernommen, hier unter der Leitung von Sarah-Jane Brodbeck umgesetzt und an ein paar Stellen dem Können der Kinder und dem Ablauf der Szenen angepasst.

Die Gestaltung des Bühnenbildes war für Francis O´Connor sicherlich etwas herausfordernder, die Maag Halle verfügt nicht über einen absenkbaren Boden, der aber vom Stück fast vorausgesetzt wird. Das die Männer trotzdem unter Tage gehen können, war einfallsreich gelöst und durch das starke Lichtdesign von Michael Gruber wunderbar unterstützt. Dieser schuf klar abgesteckte Bühnenräume, immer wieder das nötige Show-Blinkblink, aber auch stilvoll ruhige Momente. Bei vielen der Szenen war deutlich spürbar, wie gut ein durchdachtes Konzept funktioniert und vermeintlich fehlende Technik ersetzen kann.

Foto: René Tanner

Pasquale Aleardi lässt vor allem die starke Verzweiflung spürbar werden, die er als alleinerziehender Vater spürt. Immer wieder ist die Überforderung greifbar im Raum, speziell sein ›Tief im Untergrund‹ steckt voller Emotionen und rührt. Moritz Fischli, gerade einmal 12 Jahre alt, ist ein weiteres Schweizer Talent. Bereits seit seinem vierten Lebensjahr tanzt er und erfüllt die Anforderungen, die die Rolle mit sich bringt, faktisch wie ein Profi. Die Nervosität, die die Premiere mit sich bringen dürfte, war ihm zu keiner Zeit anzumerken, nicht nur tänzerisch, auch schauspielerisch trug er durch den Abend. Als sein Freund Michael haben die Produzenten mit Justin Périer eine – man möge das Wort fast verzeihen, aber in diesem Fall ist es ausschließlich positiv gemeint – echte Rampensau gefunden. Es dauerte bei ›Wer du wirklich bist‹ einen kleinen Moment, bis er angekommen war, aber ab dann füllte er Bühne mit Energie, Präsenz und Lebensfreude völlig aus.

Sabine Martin als Großmutter sorgt Rollenbedingt als Großmutter immer wieder für Lacher, berührt aber ebenso die Herzen.

Foto: René Tanner

Um die Schweizer-Darsteller-Riege zu vollenden, konnte noch Isabelle Flachsmann als Mrs Wilkinson geworden werden. Flachsmann überstrahlt alle anderen, auf den Punkt liefert sie Härte genauso wie herzerwärmende Emotionen, gesanglich ist die Rolle ein scheinbar Leichtes für sie. Leider hat sie sich kurz vor der Premiere am Fuß verletzt, so dass nicht alle Choreografien von ihr vollständig mitgetanzt werden konnten – umso beeindruckender ist ihre Leistung, dass dies sicher nur Kennern auffiel und sie trotz allem noch die eine oder andere tänzerische Einlage sehr bravourös meistert. Hier kam der Broadway-Glow, den sie mit ihrer Erfahrung mitbringt, durchaus immer wieder zum Vorschein. Stets an ihrer Seite als Mr Braithwaite war Siegmar Tonk, der ebenso wie Frank Logemann als George die Rolle mit viel Präzision erfüllte. Lucas Baier als sehr durchtrainierter Tony überzeugte mit seiner jugendlichen Unbedingheit und stürmischen Drang. Überhaupt, und dies sei ausdrücklich gesagt, wurde hier bei der Produktion bis in die kleinste Rolle darauf geachtet, dass alle Darsteller sowohl hervorragend verständlich als auch schauspielerisch sehr ausdrucksstark agierten. Selten ist im deutschsprachigen Raum so eine flächendeckend starke Cast zu sehen.


Auch wenn Zürich nicht die Produktion am West End in den Schatten stellen konnte, so gelang es den Produzenten und ihrem Team, weit mehr Emotionalität als die Inszenierung am Broadway zu kreieren. Daher kann man nur eine klare Reiseempfehlung für eine Reise in die Schweiz aussprechen. Billy hat am West End Geschichte geschrieben – nun wird dies sehr würdevoll in der Maag Halle weitergeführt.

 

 

 

Dies ist eine verkürzte Rezension, die Vollständige können Sie in der kommenden Ausgabe 132 / 06-24 unserer Zeitschrift lesen. Dort wird ebenfalls ein Interview mit Mitch Sebastian die Backstage-Berichterstattung komplettieren.